AUFGEFRESSENE LÜFTUNGSROHRE

■ „Urbane Visionen“ im Amerika-Haus

Der Mythos Amerika lebt! Alles ist möglich, alles ist drin! Valentin L. Gertsman beispielsweise fotografierte solange auf die Stadt Houston ein, bis auf dem Film die Berliner Philharmonie erschien. Dieses kleine Wunder ist zusammen mit den Arbeiten von Dieter Matthes zur Zeit im Amerika-Haus zu sehen.

Als hätte das Empire-State-Building den Himmel endgültig aufgeschlitzt, gießt sich dessen Blau über Dieter Matthes‘ New-York-Bilder, verfärbt die Kulisse, die ihr eigenes Geschehen beherbergt: Limousinen- und Schaufenster, die herabgelassenen Jalousien eines Nebenstraßengeschäfts, die vieläugigen Fassaden der Bürohöllen und immer wieder freie, menschenarme Plätze. Selten findet das Kameraauge ein Gegenüber zum Zuzwinkern. Treten doch Menschen ins Bild, so sind sie verwischt, unscharf und zittrig vor dem Stein gewordenen Gruppenbild der Havard-Business-School -Absolventen in der Wall-Street.

Durch Farbfilterung zerlegt Matthes die Bilder in zwei Sektoren: einen blauen und einen braunen. Dadurch versinkt die Szene in einer gewissen optischen Umnachtung, mit der wohl Kälte und Einsamkeit assoziiert werden soll, die aber sofort wieder aufgehoben wird, indem Partikel aus dem Geschehen farblich herausgefiltert werden, etwa ein Passant oder ein Bus, der als Leuchtspur die schummerige Atmosphäre zerschneidet. Dies und die ausgeprägte Weitwinkel -Dramaturgie sollen die Blues-Töne im Gesang der Stadt New York zum Klingen bringen, aber mitunter findet die beeindruckende Technik keine inhaltliche Entsprechung und verkommt in diesen Fällen leider zur ästhetisierenden Spielerei, die vielleicht die Angst vor dem Stilbruch verbergen soll.

Anders nähert sich Valentin L. Gertsman seinem Objekt, dem texanischen Houston, das sich narzistisch und dankbar in seinen Ölpfützen spiegelt und sich in der polierten Architektur der Finanz-Gotik vervielfacht. Gertsman führt die Kamera so nah an die unterkühlten Oberflächen von Häusern, Skulpturen und nicht mehr definierbaren Bruchstücken der Stadt heran, bis sie zu abstrakten Form und Farbstrukturen werden. Er filtert mit der Kamera das Abbild der Stadt so lang, bis sich ein Konzentrat, eine Art Meta-Bild auf dem Filmstreifen ablagert.

Die Ausstellung macht die allmähliche Entfernung vom realen Abbild gut nachvollziehbar. Recken sich anfangs noch die vom Ölfluß zusammengetropften, klimatisierten Stalagmiten in den ewig 'Tagesschau'-blauen Himmel, so greift wenig später Gertsman einige Lüftungsrohre heraus und visiert dann Gegenstände an, die nicht mehr zu definieren sind. Auch die Farben werden bei diesem Prozeß verunklärt, werden durch die Überlagerung der Bilder von reinen, grellen Tönen zu gebrochenen und warmen. Extreme Perspektiven, Bildüberlagerungen, Einkopieren fremder Bildteile sind dabei der handwerkliche Boden.

Mario Schmidt

Die Doppelausstellung „Urban Visions“ wird bis zum 16.Mai im Amerika-Haus gezeigt.