PHILOSOPHENHÄMMERUNG

■ Im Kroll-Theater sucht das „Theater der Findling“ Nietzsche

Bei Nietzsche läuft die erste Lektüre unweigerlich auf die 100prozentige Totalidentifikation mit dem Autor hinaus. Egal ob im Proseminar an der Uni oder im Kurssystem der Oberstufe, man kann die Nietzschianer so sicher an den Symptomen ihrer verbalen Infektion erkennen wie gleichaltrige Kinobesucher am raumgreifend breitbeinigen Gang des Rocky- und Rambo-Übermenschen. Da blasen sich zwanghaft schüchterne Konfirmanden zu Frauenverächtern auf und käuen mit ehrfurchtsvoll pickligen Gesichtern die altklugen Sätze ihres Idols wieder. Nietzsches mutige Statements, seine Tiefschläge und auftrumpfenden Behauptungen geben dem Pubertanden, was er dringend braucht und bei anderen Autoren nicht so billig und geistreich bekommt: Rückenwind und Power und jede Menge brauchbare Feindbilder. Der Schwangeren ihr Vitamalz, dem Erstsemester Nietzsche! Nietzsche baut das „Ego“ auf!

Morgenröte, „ein Stück von Bernd Ludwig mit viel, viel Nietzsche“, wie es in den Ankündigungen schon hieß, kommt über die leidenschaftliche Begeisterung für den Philosophen nicht hinaus. Daniel, gespielt vom Stückautor Bernd Ludwig, verkörpert einen Lehrer, der ebenso frustriert ist wie alle seine Kollegen, die in den letzten Jahren mit der Straußschen „Fremdenführerin“ den Weg in die Literatur gefunden haben. Das wirklich Deprimierende an Daniel jedoch ist für den Zuschauer nicht, daß der Pädagoge dem Alkohol verfallen zu sein scheint und gleich in der ersten Szene was für ein origineller Regieeinfall - auf der Schreibmaschine herumhackt und daneben, zur Vervollkommnung des Stillebens, eine bereits leere Flasche Valpolicella stehen hat, nein, traurig ist, daß Daniel leider Gottes keine Theatersprache findet und zwei Stunden lang mit mehr oder weniger bekannten Nietzsche-Zitaten die Bühnendialoge bestreitet. Dieser philologenimmanente Recyclingansatz für Nietzsche-Texte erweist sich auf die Entfaltung einer Handlung oder zumindest eines inneren Konfliktes zwischen den Bühnenfiguren als äußerst hemmend. Durch den nicht abebbenden Schwall von großen Worten wird nie deutlich, worum es eigentlich geht. Man tappt im dunkeln, ohne Hoffnung, daß sich dieser Nebel lichtet, bevor das Saallicht wieder angeht.

Tia (Silvia Rajewski), die Partnerin, die dem Philosophieschüler mit der Aufgabe beigegeben wurde, die männlichen Illusionsgespinste aus großen Welterklärungsthesen durch weibliche Konkretheit (warum nicht mal anders herum?) zum Einsturz zu bringen, kämpft auf verlorenem Posten. Gerade wird noch deutlich, daß es irgendwie oder so um Liebe und Liebesunfähigkeit in der Zweierkiste geht, und schon fällt der Deckel zu.

Diese Unklarheit scheint auch den Theatermachern, dem Regisseur Manfred Behrendt und dem Autor Bernd Ludwig, aufgefallen zu sein; jedenfalls scheuen sie nicht davor zurück, in dem Seminarreader, zu dem das Programmheft geworden ist, einen Briefwechsel nach Art der Großen „Warum so harte Worte, Freund?“ - mit allen originalen Tippfehlern für uns beizulegen. „Wer Lust hat, kann sich in den Diskussionshintergrund dieser Arbeit ein bißchen einlesen.“ - Gähn, gähn!

Susanne Raubold

Im Kroll-Theater, Grolmannstraße 47/ Savignyplatz, jeweils um 21 Uhr, 9.-12., 16.-19. und 30./31.Mai