Oh Gott, diese Spießer

■ Warum die DDRler Deutsche sind und auch so wählen

KOMMENTARE

Es ruft ja im Westen doch immer wieder Schmunzeln und ungläubiges Staunen hervor, wenn in der DDR die Wahlergebnisse verkündet werden. Wenn schon die 2,33 Prozent „Nein“ in der Hochburg Leipzig, die 1,95 Prozent in Dresden und die 1,37 Prozent in Ost-Berlin sensationell hohe Verweigerungsraten anzeigen, dann kann man verstehen, daß manche Oppositionelle in der DDR verzweifeln. Können sie doch anderswo im „Block“ beobachten, wie in der Sowjetunion die Menschen ihre Wahl getroffen haben, wie in Polen der erste offene Wahlkampf in einem breiten politischen Spektrum entbrennt und wie in Budapest mit einem Mehrparteiensystem geworben wird.

Sicherlich wäre es zu kurz gefaßt und ungerecht, den DDR -Behörden schlichte Manipulation vorzuwerfen. Vielleicht ist ein bißchen nachgeholfen worden. Es mag ja da und dort zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein, aber fünf Prozent mehr oder weniger macht die Suppe auch nicht fett. Wenn der eine oder andere Wähler kurz vor dem Schließen der Wahllokale erfahren muß, er habe schon gewählt, ist das zwar nicht gerade schön. Aber über diesen Fuzzelkram braucht sich niemand aufzuregen. Schwamm drüber. Das wirklich Erstaunliche ist doch, daß die erdrückende Mehrheit wirklich so wählt, wie sie gewählt hat. Wie die Lämmer. In die Wahlkabinen zu gehen ist schon ein Vertrauensbruch an der Partei. Wenn alle für den Sozialismus sind, braucht dies auch niemand wie Gorbatschow bei seinen Wahlen im geheimen tun. Nein, die SED bleibt international gesehen Weltspitze bei den Wahlen.

Vielleicht ist es ja wirklich der Sozialismus nach DDR -Machart, der die gesamte Gesellschaft hinter sich zu scharen weiß. Und vielleicht stimmt es ja tatsächlich, daß es ständig aufwärts geht mit der Produktion, der Versorgung, den Wohnungen, dem Alkoholkonsum und den Führerscheinen. Sogar in einer kürzlich vom Westen gemachten Umfrage kommen die alten Kerls im Politbüro ganz gut weg. Für die Mehrheit soll es so bleiben, wie es ist. Wer will schon die „polnische Wirtschaft“, die ungarische Armut und das sowjetische Chaos? Nein, die Stabilität und die Sicherheit sind der Deutschen liebstes Kind. Sicherheit und Ordnung im preußischen Sozialismus.

Oder? Wenn der Kommentator einer polnischen Zeitung von einer DDR-Bevölkerung spricht, die „viel deutscher ist als die amerikanisierte Bevölkerung in der Bundesrepublik“, dann ist er der Wahrheit auf der Spur. Er vergißt nur das Quentchen Kulturrevolution, das im Westen der formierten Gesellschaft für ein paar Jahre zu ein paar Sprüngen verhalf. Das Spießertum, diese enge Unoffenheit, die lieber ausgrenzt, als neue Ideen, Haltungen und Menschen zuzulassen, ist auch im Westen wieder voll im Kommen. Bei den Autonomen bis zu den Rechtsradikalen. Und so bleibt eines gewiß: Sollten weitere hunderttausend DDR-Bürger in den Westen kommen, die DKP hätte nix davon. Denn die würden wählen, was konform ist.

Erich Rathfelder