Lateinamerika im Wahlfieber

■ Demokratische Öffnung, nachdem die Militärdiktaturen abgewirtschaftet haben

Es ist noch keine zehn Jahre her, da war die politische Landkarte Lateinamerikas pechschwarz. Fast überall herrschten Militärdiktaturen, die Parteien und Parlamente aufgelöst hatten und die Oppositionelle foltern und verschwinden ließen: in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Chile, Uruguay und Paraguay und fast allen Ländern Mittelamerikas. Doch inzwischen hat sich die Karte zwischen Rio Bravo und Feuerland aufgehellt. Überall auf dem Subkontinent wird gewählt. Letzten Sonntag in Panama, wo der Armeechef General Noriega zwar nicht kandidierte, aber trotzdem der eigentliche Machthaber des Landes bleiben wird, und in Bolivien, wo der frühere Militärdiktator Hugo Banzer wohl die meisten Stimmen erhalten wird. Vor einer Woche ließ sich in Paraguay General Rodriguez, der seinen langjährigen Freund General Stroessner von der Macht geputscht hat, in einem relativ sauberen Urnengang zum Präsidenten küren. Und am kommenden Sonntag wird Argentinien wählen: aussichtsreichster Kandidat ist der populistische Peronist Carlos Menem, ein Bewunderer Hitlers und Mussolinis. In El Salvador wurde vor sieben Wochen gewählt. In Chile und Brasilien stehen Wahlen noch in diesem Jahr an.

Nun ist es - unabhängig von den Resultaten - zweifellos zu begrüßen, daß nicht mehr die Gewehrläufe, sondern die Staatsbürger den Präsidenten bestimmen. Doch vom Wahlakt allein - und sei er noch so sauber - kann man noch längst nicht auf demokratische Verhältnisse schließen. Sehen wir einmal davon ab, daß in den meisten Ländern Lateinamerikas ein Großteil der realen Macht bei den Militärs liegt, muß man konstatieren, daß in Peru mit seiner gewählten sozialdemokratischen Regierung im letzten Jahr wahrscheinlich hundertmal mehr Menschen „verschwunden“ sind als zur selben Zeit in Pinochets Chile, daß in Kolumbien mit seiner gewählten Regierung in den letzten drei Jahren vermutlich hundertmal mehr Menschen von staatlichen und staatlich protegierten Killern ermordet worden sind als im selben Zeitraum in Stroessners Paraguay. Wo der Staat aber das fundamentalste Menschenrecht, das Recht auf Leben, nicht garantieren kann, verblassen die politischen Bürgerrechte.

In Lateinamerika wird es keine stabile Demokratie geben, solange der übergroßen Mehrheit nicht gegeben wird, was sie in Hungeraufständen wie jüngst in Venezuela und in Massenstreiks wie zur Zeit in Mexiko und Brasilien immer wieder fordert. Gerade die größten demokratischen Hoffnungsträger Lateinamerikas, der Peruaner Alan Garcia und der Argentinier Raul Alfonsin, stehen vor dem wirtschaftlichen Ruin ihrer Länder. Die Militärs und die zivile Rechte lauern dort bereits in den Startlöchern. Wo Millionen von Kindern infolge Proteinmangels geistig unterentwickelt bleiben, wo der permanente Kampf ums Überleben oder um die Droge, die diesen Kampf erträglich macht, den Alltag bestimmt, droht die Demokratie immer zur wertlosen Hülse politischer Herrschaft zu werden und wird gerade insofern als Herrschaftsform austauschbar. Solange auch gibt es keine Garantie dafür, daß die Militärs, die kontinentweit abgewirtschaftet haben, nach einem Zyklus der „demokratischen Öffnung“ sich notfalls der politischen Elite nicht wieder erfolgreich als Ordnungsmacht empfehlen.

Thomas Schmid