Die SED hat es noch einmal geschafft. Das „wichtigste gesellschaftliche Ereignis“, die Kommunalwahl 1989, ist vorbei, und das 'Neue Deutschland‘ (ND), Zentralorgan der SED, jubelte: ein „eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus“. Ganze 98,85 Prozent gaben den Kandidaten der Einheitsliste, die künftig die kommunalen Belange in den Kreis- und Gemeindetagen sowie Stadtverordnetenversammlungen bestimmen sollen, ihre Jastimme. Die Kommunalwahlen, so das 'ND‘ weiter, zeige „die Größe, die Reife und Überlegenheit unserer sozialistischen Demokratie“. Bei aller Reife aber war es in diesem Jahr, ausgerechnet dem vierzigsten Jahr des „ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden“, das schlechteste Ergebnis, das je bei Wahlen erzielt wurde.

Wie bei den letzten Kommunalwahlen 1984 liegt die Zustimmung gewöhnlich nahe der Hundertprozentmarke und betrug damals 99,88 Prozent. Daß es in diesem Jahr auch mehr Zwischenfälle als üblich und im Vorfeld erstmals zahlreiche Boykottaufrufe und Kritik am Wahlsystem der DDR gab, verschwiegen die DDR-Medien ebenso wie den durch alternative und unabhängige Gruppen lauter denn je geäußerten Vorwurf der Wahlfälschung. Die offiziellen Medien feierten das Wahlspektakel vielmehr als Volksfest, mit Blasmusik und „festlicher Stimmung überall“. Mit umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen hatte die Staatsführung bereits vor dem Wahltag klargemacht, daß sie sich auch im Zeitalter Gorbatschows das altbewährte Wahlritual nicht stören lassen will. So wurde in diesem Jahr zwar erstmals das kommunale Wahlrecht für Ausländer praktiziert, unabhängige Kanidaten, die sich erst kürzlich in der Sowjetunion zur Wahl stellen konnten, wurden dagegen rechtzeitig „abgeschmettert“. Kritiker hatten das Wahlsystem der DDR kritisiert; es werde nicht über Alternativen abgestimmt, sondern nur Vorgegebenes bestätigt. Das habe nur noch den Sinn, „den Grad des erreichten Konformismus festzustellen“.

In Leipzig verlief die Wahl am unruhigsten. Bereits im Vorfeld hatte die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“, ein Zusammenschluß von kirchlichen und unabhängigen Gruppen, dazu aufgerufen, statt des Wahlzettels nur ein weißes Blatt abzugeben. Auf einem Flugblatt, das auch in anderen Städten wie Dresden, Halle und Erfurt kursierte, hieß es: „Stell dir vor, es ist Wahl, und niemand geht hin.“ Am Sonntag abend, als sich bis zu tausend Wahlkritiker auf dem Leipziger Markt zu einer Protestveranstaltung versammeln wollten, kam es zu Übergriffen der Sicherheitskräfte. Rund 150 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen und zum großen Teil im Laufe des gestrigen Tages wieder freigelassen. Die Volkspolizei hatte den Marktplatz weiträumig abgesperrt. Um öffentliche, kritische Meinungsäußerungen erst gar nicht laut werden zu lassen, so wird wird aus Leipzig berichtet, spielten Blaskapellen auf. Ein ARD-Team, das von der wahlkritischen Manifestation berichten wollte, wurde bereits an der Stadtgrenze gestoppt und zur Rückkehr aufgefordert.

Wie in Ost-Berlin beobachteten auch in Leipzig alternative Gruppen die Auswertung der Wahl. In einigen Wahlbezirken seien bis zu zehn Prozent nicht zur Wahl gegangen. Ebensoviele hätten in mehreren Stadtbezirken mit Nein gestimmt. Selbst die offizielle Statistik mußte hier mit 3,32 Prozent nach Plauen die höchste Neinstimmenquote feststellen. Bereits bei den vorangegangenen Wahlen fiel Leipzig durch einen ungewöhnlich hohen Anteil an Nichtwählern und Gegenstimmen auf. Bei der Kommunalwahl 1979 waren es immerhin über 4 Prozent.

Während von offizieller Seite die „breite Zustimmung“ zur SED-Politik gefeiert wird, zweifeln Wahlkritiker aus unabhängigen und kirchlichen Gruppen das vorläufige Wahlergebnis an und sprechen von Wahlfälschung und Manipulation. Eigene Ermittlungen hätten beispielsweise einen wesentlich höheren Anteil an Neinstimmen ergeben.

bim

1% weniger - für die DDR ein Erdrutsch DDR-Kommunalwahl erstmals unter 99,9 Prozent / Oppositionelle Gruppen vermuten Manipulation

Erstmals seit Bestehen der DDR wurde am Sonntag bei den Kummunalwahlen die legendäre Marke von 99,9 Prozent Jastimmen verfehlt. Die DDR-Führung zeigt sich mit dem erzielten Ergebnis von offiziell 98,85 Prozent zufrieden. Oppositionelle Gruppen betrachten den Verlust von einem Prozent jedoch als Erfolg, zumal sie dieses Ergebnis für manipuliert halten. Sie hatten zuvor zum alternativen Wählen aufgerufen. In Leipzig wurden bei einer Protestveranstaltung 150 Kritiker vorübergehend festgenommen.