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Quo vadis, Gorbatschow?

Die Signale in Moskau stehen auf Sturm / Das Riesenreich franst aus / Können durch die Mobilisierung der Bevölkerung wirkliche Veränderungen erzwungen werden? / Präsidialamt könnte radikale Reformen beschleunigen / Gorbatschow in Zeitnot  ■  Aus Moskau Klaus Walter

Die Signale in Moskau stehen auf Sturm. Die Situation im ganzen Land hat sich dramatisch zugespitzt. Im Süden des Riesenreiches proben die moslemischen Völkerschaften den bewaffneten Aufstand. Im Norden haben die drei baltischen Republiken die ersten praktischen Schritte zum Austritt aus der Sowjetunion eingeleitet. In der Ukraine und in Weißrußland formiert sich der Widerstand gegen die russische Zentralgewalt. Die Unruhen haben nun auch das russische Zentrum erfaßt. Hunderttausende haben am vergangenen Sonntag in Moskau, Leningrad und anderen Städten ihrer Unzufriedenheit Luft gemacht. Parallelen zu Polen, Ungarn und der DDR tun sich auf. Schlägt die Woge dorthin zurück, von wo sie ausging?

Die Frage stellt sich, ob am Sonntag die Kreml-Glocken das Ende der Ära Gorbatschow eingeläutet haben. Der Machtkampf im Kreml ist bereits offen ausgebrochen. Im höchsten Machtorgan, dem KPdSU-Zentralkomitee, hat sich auf dem spektakulären Februar-Plenum die Spaltung praktisch vollzogen, nachdem sie mit der Bildung des Koordinationsrates der Demokratischen Plattform der KPdSU organisatorisch eingeleitet wurde. Die Radikalreformer um den ehemaligen Moskauer Parteichef Boris Jelzin glauben nicht mehr daran, daß die Kommunistische Partei noch zu demokratischen Reformen, zu einem demokratischen Sozialismus in der Lage ist. Nicht zuletzt haben ihnen die Ereignisse in den ehemaligen Bruderländern gezeigt, daß nur durch die Mobilisierung der Bevölkerung, nur durch den Druck der Straße wirkliche Veränderungen erzwungen werden können.

Auch die Konservativen in der sowjetischen Führung formieren ihre Reihen. Sie sind immer weniger bereit, noch mehr Privilegien freiwillig aufzugeben. Sie haben ihre Angriffe auf Gorbatschow und seine Politik der Perestroika verstärkt. Alle Mißerfolge im eigenen Lande und der Zerfall der ehemaligen sozialistischen Länder in Osteuropa werden ihm angelastet. Die desolate Wirtschaftslage, Arbeitslosigkeit und Inflation kommen ihnen dabei entgegen. Die sowjetischen Menschen sind immer weniger gewillt, weitere Experimente über sich ergehen zu lassen. Der Ruf nach einer starken Hand, die Ordnung wieder herstellt und das Lebensnotwendigste garantiert, wird lauter. Charakteristisch für diese Stimmung ist, daß sich bei einer kürzlichen Umfrage in Moskau die Hälfte der Befragten für eine solche starke Hand aussprachen.

In der gesamten Sowjetunion hat sich mittlerweile eine revolutionäre Situation herausgebildet, in der die Oberen nicht mehr können und die Unteren nicht mehr gewillt sind, so wie bisher weiterzuleben. Lenin hatte das - welch Ironie der Geschichte - eigentlich für den Untergang des Kapitalismus vorhergesehen. Auch im Kreml ist man sich dieser Gefahr bewußt. Nicht umsonst wird immer häufiger von der Möglichkeit eines Militärputsches oder blutigen Veränderungen wie in Rumänien gesprochen.

Staats- und Parteichef Gorbatschow hat offensichtlich erkannt, daß eine Entscheidung bevorsteht, daß radikale Veränderungen notwendig sind. Wird es ihm gelingen, mit dem nun vom Obersten Sowjet akzeptierten und verabschiedeten Präsidialregime die Partei-Nomenklatura zu entmachten? Für Gorbatschow wird es immer schwieriger, weiter wie bisher zwischen den einzelnen Gruppierungen zu lavieren. Er muß sich entscheiden, denn für ihn gehts ums Überleben. Viel Zeit hat er nicht mehr. Welchen Weg wird er einschlagen?

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