Wer die Zeichen der Zeit nicht versteht...

■ Reizthema Nato-Zugehörigkeit eines geeinten Deutschlands / Sein militärischer Status - Schlüsselfrage für die Zukunft Europas / Sowjetischer Truppenabzug schneller als geplant / Bis Mitte 1991 keine sowjetischen Truppen in der CSSR und Ungarn

Der Zug der deutschen Einheit rollt und gewinnt immer mehr an Geschwindigkeit. Aufzuhalten ist er nicht mehr. Noch vor einem Monat war ungewiß, ob der Kreml die Signale für die Vereinigung auf Grün schalten würde. Heute ist das schon kein Thema mehr. Und je schneller dieser Prozeß voranschreitet, umsomehr bestimmen Statusfragen des künftigen Deutschlands die Diskussion. War am Anfang der Begriff der Neutralität das Reizthema, so ist es heute die Nato-Zugehörigkeit. Je mehr sich im Westen die führenden Politiker für eine unabdingbare Einbindung des vereinigten Deutschlands in der Nato aussprechen, umso häufiger kommen aus Moskau Meldungen, in denen das kategorisch abgelehnt wird. Unmittelbar nach dem letzten Treffen von Kohl und Bush am vergangenen Wochenende in Camp David, bei dem noch einmal die volle Nato-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands bekräftigt wurde, reagierte Moskau erneut unmißverständlich ablehnend.

Das würde, so der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse, zu einer Störung des militärischen Gleichgewichts in Europa führen. Er wies Auffassungen zurück, daß mit einem Nato-Beitritt das vereinten Deutschland unter Kontrolle gehalten werden könnte. Nicht akzeptabel wären auch Vorstellungen, Nato-Streitkräfte auf dem heutigen Territorium der DDR zu stationieren. Zugleich setzte Schewardnadse neue Prioritäten. Er charakterisierte den militärischen Status des künftigen Deutschlands als die Schlüsselfrage für die Zukunft Europas. Offensichtlich will Moskau wirksamer als bisher sein Gewicht als Siegermacht im zweiten Weltkrieg und als militärische Supermacht in die Verhandlungen „2+4“ einbringen und zugleich verhindern, erneut den Ereignissen hinterherlaufen zu müssen. Für Moskau hat das umso größere Bedeutung, da es darin den entscheidenden Hebel sieht, eine zu schnelle Vereinigung nach Bonner Zeitplan verhindern zu können. Denn wider besseren Wissens wird von den offiziellen Moskauer Stellen der Standpunkt vertreten, daß die Annäherung und Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich über einen längeren Zeitraum erstrecken würde, der nur etappenweise verwirklicht werden kann.

Die sowjetische Deutschlandpolitik ist gegenwärtig darauf ausgerichtet, Zeit zu gewinnen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten soll synchron in den gesamteuropäischen Prozeß eingebunden und mit einem Friedensvertrag besiegelt werden. In der jüngsten Erklärung des Kollegiums des sowjetischen Außenministeriums „Zur deutschen Frage“ wird zugleich gewarnt, daß die SU zum militärischen Status über eigene Varianten verfügt. Als höchst unproduktiv wird bezeichnet, vorzupreschen oder gar zu versuchen, noch vor dem Treffen der sechs Außenminister einer Seite irgendwelche Modelle aufzudrängen, die deren Sicherheitsinteressen mißachten.

Bemerkenswert ist auch eine Verhärtung der sowjetischen Position in den Verhandlungen zwischen der Nato und dem Warschauer Vertrag über gegenseitige Luftüberwachung „Offener Himmel“ in Ottawa. Beobachter schließen nicht aus, daß im Vorfeld des nächsten Treffens von Baker und Schewardnadse und in Vorbereitung des Gipfeltreffens Bush -Gorbatschow im Juni 1990 von den Sowjets ein Paket geschnürt wird, das alle gegenwärtig verhandelten Abrüstungsfragen und die politischen Entwicklungen in Zentraleuropa - einschließlich der künftige Status eines vereinigten Deutschlands - einbindet. So wäre es möglich, Abhängigkeiten und junktime zu schaffen, mit denen sich Moskau wieder als gewichtige Großmacht in Mitteleuropa profilieren könnte. In diesem Zusammenhang ist auch die potentielle Schwäche des Warschauer Paktes zu sehen. Der SU paßt es sicherlich nicht ins Konzept, wenn die Regierungen in Prag und Budapest auf den schnellstmöglichen Abzug der Roten Armee von ihren Territorien drängen, ehe bei den Wiener Verhandlungen substantielle Ergebnisse ausgehandelt worden sind. Das Eingehen Moskaus auf diese Forderungen und das wiederholte Angebot an Warschau, auch Polen vollständig zu räumen, verdeutlicht, daß die inneren Schwierigkeiten in der Sowjetunion noch größer sind, als bisher angenommen wurde.

Die SU hat zur Zeit 627.000 Soldaten im Ausland, davon 372.000 in der DDR, 75.000 in der CSSR, 50.000 in Ungarn und 58.000 in Polen stationiert. Der überwiegende Rest befindet sich in der Mongolei und wird entsprechend den Verhandlungen zwischen Moskau und Peking ebenfalls drastisch reduziert.

Gorbatschow hat es sich zum Ziel gestellt, innerhalb von fünf Jahren alle in osteuropäischen Ländern stationierten Truppen und bis zum Jahr 2000 sämtlich Militärstützpunkte auf dem Kontinent zu beseitigen. Dieses Ziel dürfte für die Rote Armee eher erreicht werden, als es geplant war. Mitte 1991 werden in Ungarn und in der Tschechoslowakai keine ausländischen Truppen mehr sein. Und nach einer Anerkennung der Westgrenze Polens durch die Parlamente der BRD und der DDR sind die Tage der sojetischen Truppen in diesem Lande ebenfalls gezählt.

Eine besondere Frage ist die Anwesenheit ausländischer Truppen in der DDR. Die Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg haben besondere Rechte und Pflichten. Sie sind auch nicht gewillt, diese ohne Gegenleistungen aufzugeben. Jedoch weiß der Kreml, und erst recht die sowjetische Generalität, daß die in den Wiener Verhandlungen vorgesehenen 195.000 sowjetischen Soldaten auf dem heutigen Territorium der DDR keine Sicherheitsgarantie für die Sowjetunion darstellen. Der Gedanke, die Sicherheit der SU könnte von der russischen Enklave inmitten eines kapitalistischen Deutschlands garantiert werden, ist nicht aufrechtzuerhalten und kann höchstens von den Militärtheoretikern im Sandkasten ausprobiert werden.

Nicht nur der Kreml ist sich bewußt, daß die Anwesenheit der Roten Armee in einem Deutschland, daß in der Nato integriert ist, an den Grundpfeilern dieses Bündnisses rütteln würde. Es sei denn, Nato und Warschauer Vertrag würden ein neues Verständnis für die Sicherheit in Europa finden. Nicht auszuschließen ist, daß die Geschichte den Lauf der Ereignisse bestimmt, die Politiker in Ost und West wieder feststellen müssen, daß sie, wie in letzter Zeit schon gewohnt, der Geschichte erneut hinterherlaufen müssen.

Klaus Walter