Wende in der DDR

■ Über die Chancen einer Verfassungsdiskussion

Je näher der 18.März rückt, desto mehr erhöht sich jetzt das Tempo der politischen Verantwortlichen in der DDR, Fakten zu schaffen. Das ist neu. Bislang hatte jedenfalls Kanzler Kohl mit der Politik des langen Hebels - zusammengesetzt aus der starken D-Mark und der Existenzangst der Massen in der DDR das Zeitmaß der deutschen Einigung bestimmt. Daß jetzt die Regierung Modrow, die ja in gewissem Sinne ein Regierung der nationalen Verantwortung ist, noch vor der Wahl versucht, Weichen zu stellen - bei der Frage des Volkseigentums beispielsweise - ist keineswegs ein Ignorieren der ersten demokratischen Wahl. Sie setzt vielmehr und endlich den Demokratisierungsprozeß fort, das heißt, versucht, die Ergebnisse des revolutionären Herbstes zu sichern. Auch der Runde Tisch, zum Teil eine Personalunion zur Regierung, wird nun in der Verfassungsfrage offensiv. Es fragt sich gleichwohl, ob die verhandelten Entwürfe mehr wert sind als das bedruckte Papier. Zwei Punkte sprechen dafür: Einmal beziehen die Vorschläge einer Verfassung schon die Diskussion von unten mit ein. Zudem hat sich mit den ersten Hitzewellen kapitalistischer Triebe zum DDR-Eigentum der Wille der Bevölkerung verstärkt, die eigenen Interessen zu organisieren. Die Selbstbestimmung hat begonnen, schon vor der Wahl. Es zeichnet sich tatsächlich ein „neuer Konsens“ ab, der eine Verfassungsdebatte tragen könnte.

Nichts paßt den bundesdeutschen Parteien weniger ins Wahlkampfkonzept als eine Verfassungsdebatte. Aber nicht nur deswegen greifen sie hektisch nach dem Paragraphen 23 des Grundgesetzes, der angeblich den verfassungskonformen Anschluß der DDR sichere. Es sind auch die Inhalte.

Eine DDR-Verfassung, die Bürgerinitiativen verfassungsrechtlichen Rang verleiht, muß das Parteienmonopol auf politische Willensbildung erschüttern erst recht, weil es schon durch die „neuen Bewegungen“ in der Bundesrepublik fragwürdig geworden ist. Sollte die Verfassungsdiskussion, die jetzt in der DDR begonnen hat, auch zwingenden Charakter in der Bundesrepublik bekommen, dann wird nicht nur der Prozeß der Einheit verlangsamt. Es würde auch die Wirkungsgeschichte der DDR-Revolution in der Bundesrepublik beginnen. Es bedarf allerdings auch eines breiten Engagements hierzulande. Zweierlei steht jetzt schon fest: Die Verfassungsdiskussion in der DDR ist an einem Punkt, daß es ein schlimmer antidemokratischer Akt wäre, sie zu übergehen; und - die Bundesrepublik ist auf eine erbärmliche Weise unvorbereitet. Keine schlechten Karten für die DDR.

Klaus Hartung