Neue Unverschämtheiten-betr.: "Gorbatschow will kein Deutscher werden" und "Vier plus zwei", taz vom 22.2.90, "Teutomanie und Pascals Gesetz", taz vom 23.2.90

betr.: „Gorbatschow will kein Deutscher werden“, und „Vier plus zwei“, taz vom 22.2.90, „Teutomanie und Pascals Gesetz“, taz vom 23.2.90

Er scheint sich doch noch jedesmal über den Tisch ziehen zu lassen: Jetzt redet er davon, „die Deutschen“ hätten selbst zu bestimmen, wann und wie „ihre Vereinigung“ vor sich gehen solle. Als ob denn diese „Vereinigung“, diese Schaffung eines vierten Reichs, irgendwie legitim oder gar positiv wäre. Ist doch in Westeuropa (wo Italien nicht einmal mehr ein läppisches Tempolimit allein regeln darf), und mittlerweile auch im glorreich „reformierten“ Osten die BRD-Vorherrschaft schon drückend genug. (...) Vor allem aber - und das verkennen Gorbatschows Äußerungen völlig - hat das Projekt des DDR-Anschlusses mit deutscher „Selbstbestimmung“ nicht das geringste zu tun, wie Serge Christophe Kolm (taz 23.2.) überzeugend herausgearbeitet hat. Denn das Selbstbestimmungsrecht ist ein Recht gegen eine zwangsweise Vereinigung oder Vereinnahmung, nicht aber ein Recht auf Zusammenschluß beziehungsweise Annektiertwerden. Sofern jedoch letzteres von der betroffenen Bevölkerung gewollt wird - etwa 1935 im Saargebiet, wo in „freier und demokratischer Abstimmung“ 80 Prozent dafür waren - ist es nicht Ausdruck, sondern Aufgeben des Selbstbestimmungsrechts!

Aber nicht nur hier irrt der Generalsekretär: Anstatt unverbindlich davon zu künden, die Errichtung des vierten Reichs solle in einem „gesamteuropäischen Friedensprozeß“ stattfinden, hätte er - wenn er schon damit anfängt, europäische Nachkriegsgrenzen zur Disposition zu stellen - wenigstens zwei dafür unverzichtbare Mindestbedingungen konkret benennen müssen. Nämlich erstens die Fortschreibung der Vier-Mächte-Verantwortung, von deren - widerruflicher Zustimmung jegliche Form „deutscher Einheit“ zwischen BRD und DDR abhängig sein muß, und zweitens die vorherige Auflösung von Bundeswehr und NVA sowie den endgültigen Verzicht auf jede Spielart einer anderen (gesamt)deutschen Armee. (Erst dann würde es übrigens Sinn machen, die westalliierten und sowjetischen Truppen sukzessive, bis auf ein paar symbolische Kontingente, abzuziehen.)

So aber verzichtet Gorbatschow aus lauter Furcht, „zu spät zu kommen“ und „vom Leben bestraft zu werden“ auf eine politische Gestaltung, die durchaus noch möglich wäre, und kommt damit natürlich mal auf jeden Fall zu spät: Aus lauter Furcht vor einer möglichen Niederlage kapituliert man lieber von Anfang an! Es ist, neben der grenzenlos manipulierbaren und desorientierten DDR-Bevölkerung, vor allem diese hilflose, unter den Vielgeschmähten Gromyko und Breschnew völlig undenkbare, Appeasementpolitik der Sowjetunion, die den BRD-Imperialismus zu immer neuen Unverschämtheiten ermuntert.

Jüngster Coup ist die bodenlos freche Anspruchskampagne ehemaliger Haus- und Grundeigentümer auf Wiedererlangung „ihres“ Besitzes, die die DDR bereits vor Einführung der totalen Schweineherrschaft, pardon: Marktwirtschaft, mit dem VermieterInnen-Terror bekannt macht. Daß man sich dort panisch-defensiv in „Mietervereinigungen“ flüchtet, mit der Hoffnung auf Gnade und eine neue Duschkabine seitens des Ausbeuterpacks in spe, anstatt das einem seit Jahrzehnten gehörende Volkseigentum nun auch sich praktisch anzueignen, zeigt drastisch, daß der rasante Umsturz der DDR eines mit Sicherheit nicht gewesen ist: nämlich eine demokratische Revolution!

Gunter, Mannheim