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Ein wahrer Citoyen läßt sich gern zählen

In Frankreich beginnt die Volkszählung - und alle, alle machen mit / Name, Adresse und Konkubine/r sind keine Privatsache  ■  Aus Paris A.Smoltczyk

Die Generalsekretärin der Flüchtlingshilfe Cimade fällt aus allen Wolken: „Volkszählung? Darüber haben wir nie nachgedacht... Und bei Ihnen wurde boykottiert, sagen Sie?“ Ungläubiges Staunen. Frankreichs Grüne ihrerseits wollen das Thema erstmals bei der Leitungssitzung am Wochenende ansprechen - aber dann sind die ersten Zähler bereits unterwegs: Die 32. Volkszählung in Frankreichs Geschichte beginnt am Montag wie alle sieben, acht Jahre und begleitet von leidenschaftlicher Indifferenz der kritischen Öffentlichkeit.

Vier Wochen lang wird gezählt, in den Barackenlagern der Pariser Banlieue ebenso wie in Klöstern und Clochard-Asylen. Und auch im fernen Guayana und in Guadeloupe werden die Citoyens bei Frage 6 brav ankreuzen: „Franzose von Geburt“. Denn Gezähltwerden ist Bürgerpflicht. Das hatte schon Bonaparte so eingerichtet, denn wie sonst könnte der Staat seinen Objekten Pein und Mühsal ersparen? Alte Jakobinerweisheit: eine gute Statistik - und auf Wahlen könnte eigentlich verzichtet werden.

Das zentrale statistische Amt der Republik INSEE hat 54.334.871 Fragebögen an die 36.500 Gemeinden verteilt. Auf zwei Bögen müssen 36 Fragen beantwortet werden. Nach Wohnverhältnis, Heizsystem und Badewanne, nach Beruf („Seien Sie sehr präzis“), Arbeitsplatz (samt Adresse bitte schön), Ausbildung und Arbeitslosigkeit. All dies wird „streng vertraulich“ von der INSEE ausgewertet. Und weil das Verhältnis zwischen Staat und Bürger seit Napoleons Zeiten von inniger Vertrautheit geprägt ist, sind oben auf den Bögen auch Name („Bitte sehr deutlich schreiben“) und Adresse zu vermerken - wo es doch unter Freunden bleibt...

Auch sämtliche Bewohner und Gäste einer Behausung müssen mit Namen und Verwandtschaftsverhältnis in drei lindgrünen Listen vermerkt werden. Und ja niemanden vergessen! Denn, so stellt uns INSEE düster vor das Unausdenkliche: „Stellen wir uns vor, daß jeder der 110.000 Zähler auch nur eine einzige Person vergißt. Eine Stadt in der Größe von Mulhouse wäre von der französischen Landkarte radiert...“

Damit dieser statistische Völkermord nicht eintritt, rekrutieren die Rathäuser für knapp 1.000 DM verantwortungsvolle „Rezensions-Agenten“, vor allem ortsansässige Rentner, Beamte und Arbeitslose, die den mündigen BürgerInnen zur Hand gehen sollen. Bertrand, schon 1982 Zähler in der Zentralmassiv-Gemeinde Ambert: „Wenn jemand nicht zu Hause war, reichte es, im Dorf herumzufragen und die Bögen selbst auszufüllen. Alle haben es so gemacht.“

Die politisch brisanteste Zahl im Lande Le Pens ist die der Ausländer. Bislang läßt sie sich nur anhand der ausgegebenen Aufenthaltsgenehmigungen schätzen - ein ungenaues Verfahren, weil sich kaum jemand abmeldet, wenn er Frankreich wieder verläßt. Manche Antirassismus-Organisationen hoffen daher, daß die Volkszählung realistischere - konkret: niedrigere Zahlen liefert. Das mag sein. Nur hilft das dem real existierenden, womöglich illegalen Einwanderer nichts mehr, wenn plötzlich ein Flic an seine Tür klopft und ihn befragt. Denn es „kann nicht ausgeschlossen werden“, wie INSEE -Sprecher Jacques Boudoul zugibt, daß auch örtliche Polizisten zu Zählern ernannt werden. Ein kurzer Blick in die Liste der Aufenthaltsgenehmigungen, ein schneller Anruf beim mutmaßlichen Arbeitgeber - und, hepp!, wieder ein Illegaler weniger auf Frankreichs Boden.

Und damit nicht genug. Wie es unter lang vertrauten Freunden üblich ist, werden die Daten von der INSEE auch an andere Freunde weitergereicht. An „Verantwortungsträger der Wirtschaft“ zum Beispiel. Denn diese müssen ja „neue Produkte lancieren“ und andere wichtige Entscheidungen tätigen. Erst „nach einigen Jahren“, so der INSEE-Sprecher, würden die Bögen dann vernichtet, ein repräsentativer Teil auch für weitere hundert Jahre aufbewahrt. Samt Namen, versteht sich. Was noch so alles aufbewahrt wird, steht in der letzten Nummer des 'Journal Officiel‘ zu lesen. Danach bräuchten Datenbanken, die rassische, politische oder religiöse Zugehörigkeiten speichern, nicht gelöscht werden obwohl das französische Recht derartige Schnüffellisten verbietet. Unterzeichnet haben das Dekret Premier Rocard und Justizminister Arpaillange, abgesegnet wurde es von der „Kommission Informatik und Freiheiten“ (CNIL), dem höchsten unabhängigen Kontrollorgan. Nach heftigem Protest nahm Rocard das Dekret am Samstag zurück.

Selbst altgediente Linke wie Francoise Gaillard, Sprecherin der „Rot-Grünen“, wollen die Dinge nicht so schwarz sehen: „Für die Leute ist die Prozedur eine einzige Farce, weil niemand seinen Bogen korrekt ausfüllt.“ Anders als in der BRD muß in Frankreich jeder Bürger seine Steuern nachträglich selbst erklären. Daher gibt es hierzulande eine gewisse Erfahrung im Umgang mit staatlichen Zumutungen und eine Tradition fiskalischer Resistenz. Solange dem einzelnen die Möglichkeit zum se d'ebrouiller, zum Sich -Durchmogeln noch offen ist, wird er sich nicht auf die Barrikaden bemühen.

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