Ein großes Herz schlägt für ganz Berlin

■ Post aus dem Rathaus Schöneberg - der Ostbürger soll sich richtig entscheiden

Sie werden sich sicher wundern, von mir, einem Politiker aus dem Westen, einen Brief zu erhalten, schreibt mir der Politiker aus dem Westen, und ich wundere mich. Aber dann kann ich mich gar nicht mehr wundern, sondern es kaum fassen: M i r ! schreibt er. Und er beglückwünscht mich von ganzem Herzen zu meiner Revolution. Dieses Herz muß groß sein, denn meine Nachbarin hat auch einen solchen Brief erhalten. Nun können wir es zu zweit kaum fassen. Er kennt uns doch gar nicht!

Gleich im ersten Absatz steht es ja: Es sind ungewöhnliche und historische Zeiten. Recht hat er, der Herr Diepgen. Und stolz ist er mit uns auf die freien Wahlen, bei denen wir uns endlich selbst entscheiden können. Aha, wir sollen wissen, daß die Allianz für Deutschland seine Sympathien hat. Wie aufmerksam!

Ein großes Herz schlägt für ganz Berlin. Vielleicht könnten wir uns davon beeinflussen lassen?!! Von außen läßt sich das Ganze sowieso besser beurteilen als von drinnen. Man ist so voreingenommen, wenn es um einen selbst geht. Meine Nachbarin findet ja auch, daß man sich mit dem abfinden muß, was ist, und das beste draus machen.

Die deutsche Einheit kommt schnell, schreibt uns Herr Diepgen, und der muß es ja wissen. Wir haben genauso tüchtig gearbeitet, schreibt Herr Diepgen, und um die Früchte, um die hat uns der Sozialismus gebracht. Nein, Herr Diepgen, wir lassen uns von keiner Partei mehr sozialistische Experimente zumuten, und überhaupt, diese ganze Kultur, diese politische.

Das hätte uns der Herr Diepgen nun nicht schreiben brauchen, daß im Westen auch nicht alles ideal ist. Aber wenn er das so schreibt, nimmt er einem gleich die Angst. Und wenigstens das Gefühl gibt er einem, gebraucht zu werden - als Wähler der Allianz für Deutschland nämlich. Da lassen meine Nachbarin und ich sich nicht lange bitten, wo doch der Sozialismus sowieso in jedem Falle unfähig ist. Abrechnen mit der SED werden wir, jawoll, abrechnen. Recht hat er, der Herr Diepgen, jawoll, in jedem Falle, das sagt meine Nachbarin auch.

Nadja Klinger