Das Prinzip der Veranwortungslosigkeit

Der mündige Bürger vor schicksalschwerer Verantwortung  ■  D E B A T T E

Wen wählst'n du? heißt die nervige Frage dieser Tage, kommen Sie zu uns, wir haben, was Sie brauchen, die dazu passende Antwort beliebiger Parteien. Deren Marktgeschrei unterscheidet sich nur unwesentlich von dem bei Aldi oder Bilka: Wir haben und wir werden und wir setzen uns ein und wir vertreten. Der „mündige Bürger“ indes steht zwischen alledem, verschreckt, verstört, unsicher, zugleich aber im Bewußtsein schicksalsschwerer Verantwortung: Wem wird er wohl sein Kreuzchen schenken. Spätestens am 18. März aber ist dann - erst einmal - alles vorbei. Die Last, die er nicht trägt, kann er endlich abwerfen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Er darf es sich nun gutgehen lassen. Selbstverständlich wird er genau im Auge behalten was se (das Wörtchen wird seine Renaissance erleben) sich hier und da nu wieder gedacht ham, und er wird zu dem Helden, Buhmann/frau, nichts zu sagen, aber viel Spaß an flammenden Reden, Tumulten, Skandalen und Affären der Parlamente und ihrer Politiker haben. Und wenn ihm das ganze Affentheater tatsächlich mal zu bunt wird, rächt er sich bitter-böse bei denen, die sein Vertrauen so schmählich mißbrauchen: Radikal entzieht er ihnen seine Stimme. Bei den nächsten Wahlen.

Dazwischen ist Ebbe. Man wird schließlich nicht dafür bezahlt, Politik zu machen. Es gibt ohnehin viel zu tun (marode Wirtschaft und so, sie wissen schon), da kann man sich nicht um alles kümmern. Dafür haben wir ja Politiker, (Volks-)Vertreter. Selbst der - auch wenn das heutzutage nicht so gern gehört wird - Genosse Lenin hat das schon vor zig Jahren gewußt, als er mit der Frage, „was tun?“, und den fälligen Antworten auf den Plan trat. In der Gesellschaft gibt es Werktätige einerseits, die überhaupt nicht über die Zeit verfügen, sich mit dem ganzen politischen Kram zu befassen und deshalb , andererseits Berufsrevolutionäre. Die politische Avantgarde sozusagen, die, eben weil die Werktätigen nicht die Zeit und die Bildung (zu deutsch: sie sind ja auch zu blöd) haben, vorgibt, was zu tun ist. Daß das mit der einen Partei nicht ganz hingehauen hat - kann schon mal passieren. Das war ja auch in Zeiten der Diktatur, heute haben wir die Demokratie, das heißt die Wahl. Im Prinzip, mit kleinen Ausnahmen. Und die Politiker werden uns schon sagen, wo's langgeht, die müssen's ja wissen. Und sollten sie sich tatsächlich mal irren, vieleicht so in Sachen Atomenergie oder Arbeitslosigkeit oder Waldsterben, ist man immer noch - doppelt frei - raus: Erstens kann der in die Verantwortungslosigkeit entlassene „Bürger“ selbst sowieso nichts dafür und zweitens ist er abgesichert. Sozial und ökologisch versteht sich. Im übrigen: Die Mehrheit hat es schließlich, frei gewählt, so gewollt. Und das ist nun mal demokratisch.

Apropos, Auschwitz sei auch ein Resultat von freien Wahlen, unkt der Dramatiker Heiner Müller. Aber dafür können wir ja erst recht nichts.

Andreas Lehmann