Sozialarbeiter von der „Anstalt“

Sozialpädagogik - erstes neues Studium an der PH Güstrow / Veränderungen auch bei Staabü / Ängste unter den Studenten  ■  Von Henrik Spieß

Jahrelang war die Erziehung zum „festen sozialistischen Klassenstandpunkt“ hier oberstes Gebot, die Studenten nennen sie wenig liebevoll „die Anstalt“, jetzt sucht man in den alten Backsteinbauten neue Wege. Die Rede ist von der Pädagogischen Hochschule Güstrow.

Als erstes völlig neues Projekt wird am 1. September 1990 ein Sozialpädagogik-Studium aus der Taufe gehoben. Spiritus rector ist der Direktor der Sektion Pädagogik/Psychologie, Dr. Trier. Er versteht diese Ausbildung als Notwendigkeit, weil „viele Leute Schwierigkeiten mit dem Wechsel von einem Gesellschaftssystem ins andere bekommen werden.“ Besonders betroffen seien aber gerade diejenigen, die auch heute schon Randgruppen darstellen. „Hier bedarf es ausgebildeter Helfer, soziales Engagement allein genügt nicht.“ Es geht um „soziale Integrationshilfen, sozialpsychologische Beraterfunktionen, Für- und Nachsorgeerziehung.“ Man habe sich intensiv in der BRD informiert, will allerdings keine bloße Kopie der dortigen Ausbildung schon wegen der durchaus unterschiedlichen sozialen Probleme.

Die Güstrower PH will sich in dem recht großen Problemfeld besonders auf den sozial-kommunalen Bereich konzentrieren und sucht dabei die Kooperation mit ähnlichen Vorhaben der Uni Rostock und der PH Neubrandenburg. Letztere orientiert sich stärker auf den Komplex Heimerziehung/Jugendfürsorge. Als Einsatzmöglichkeiten der Absolventen peilt man aus heutiger Sicht vor allem Arbeits- und Sozialämter, Betriebsfürsorge, Altersbetreuung, sowie Drogen- und andere Beratungsstellen an.

Das Studium wird als Direkt- und postgraduales Studium angeboten. Einen pädagogische Hochschulabschluß, Schulerfahrung und eine Delegierung soll man dagegen für das fünfmonatige postgraduale Studium mitbringen. Es wird entsprechend einer Vereinbarung mit dem Arbeitsamt als Umschulungsmaßnahme bezahlt. Eine spezifische Einsatzform wäre dann der Beratungslehrer direkt an der Schule. Pädagogik und Psychologie, verhaltensbiologische und medizinisch-psychiatrische Grundlagen, Umweltökonomie, Kulturästhetik sowie Betriebspraktika, wird das Studium umfassen. Zu den Lehrveranstaltungen werden Mediziner, Fürsorger und Vertreter der örtlichen Räte sowie, Gastdozenten aus der BRD hinzugezogen.

Ende Januar wurde das Studium in verschiedenen Mecklenburger Zeitungen ausgeschrieben. Bis jetzt konnten die Hochschul-Mitarbeiter bereits über 400 Bewerbungen registrieren. Es muß gesiebt werden, denn nur 100 Plätze stehen zur Verfügung. Unter den Antragstellern sind viele Abiturienten, auch solche, die bei der Erstbewerbung an anderen Hochschulen im letzten Jahr eine Ablehnung erhalten haben. Daneben aber vor allem Russischlehrer und im Verwaltungsapparat arbeitende Lehrer, denen dieses Studium als der letzte Strohhalm vor der Arbeitslosigkeit erscheint.

Darauf angesprochen, bestätigt Dr. Trier vorsichtig, eine Psychologisierung unserer Gesellschaft halte er schon seit längerer Zeit für notwendig. Er wäre auf solche Probleme in seinen Weiterbildungsveranstaltungen auch häufig eingegangen. An einen eigenständigen Studiengang sei angesichts der „festen ministeriellen Vorgaben“ seinerzeit jedoch nicht zu denken gewesen.

Neue Töne sind auch aus der verrufenen ehemaligen Sektion ML-Staatsbürgerkunde zu hören, der Bereich, in dem es primär darum ging, daß System zu begründen, nicht etwa fundierte Gesellschaftswissenschaft zu betreiben. Sie hat inzwischen die Namensänderungen hinter sich: Philosophie -Sozialwissenschaften heißt die Sektion jetzt, Gesellschaftskunde das Unterrichtsfach. Eine Namensänderung, keine Neugeburt, meint S.Z. (22/Studentin-Namen sind dem Autoren bekannt). Denn die Studenten erlebten, nachdem man sie erst einmal arbeiten und dann in die Semesterferien geschickt hatte, daß dieselben Lehrkräfte, bei denen sie früher Wissenschaftlichen Sozialismus hatten, ihnen entsprechend einer Übergangskozeption jetzt Soziale Marktwirtschaft und Demokratische Lebensweise nahebringen sollen. Das empfinden sie nur bei wenigen als glaubwürdig und betonen: „Man hat die Ideologie auch vor der Wende nicht unbedingt durchpeitschen müssen.“

Recht zukunftsfroh in die Welt schaut bei alledem Prof. Girbig, designierter Fach-Prorektor für Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Er glaubt, in einem „ehrlichen Umdenkungsprozeß seiner Mitarbeiter“ einen „Bruch der ideologischen Behinderung der Wissenschaft“ herbeiführen zu können. Und er beziehe bei allen Veränderungen die Studenten intensiv ein.

An der studentischen Basis kommt davon wenig an. Noch einmal 0-Ton S.Z.: „Der Rektor hat im Herbst umfassende Mitwirkung angekündigt, doch jetzt spüren wir davon daum noch etwas.“ Hinzu kommen soziale Ängste, die die Gesellschaftskundler mit anderen Lehrerstudenten teilen. Durch den schulfreien Sonnabend ist der Bedarf an Lehrern wesentlich gesunken, eine staatliche Vermittlungsgarantie für Praktikanten und Absolventen gibt es nicht mehr. Viele haben bis heute keine Schule gefunden, wo sie ihr großes Schulpraktikum absolvieren können, womit der ganze Berufusabschluß in Frage gestellt ist. „Auch auf schwangere Studentinnen wird kaum noch Rücksicht genommen“, stellt K.M. ernüchtert fest.

Ob ihre Qualifikation in einem zukünftigen Gesamtdeutschland noch etwas wert sein wird? Viele Diplomarbeiten müssen völlig neu geschrieben werden, weil die Themen vom Rektor für unzulässig erklärt worden sind.

Die Probleme durch die Verlegung des Großteils der Sektion an die PH Neubrandenburg tun ein übriges zur gedrückten Stimmung. In der Bibliothek ist so gut wie keine Fachliteratur mehr vorhanden und der Sektionsdirektor, Prof. Leonhard, sagt den Studenten ziemlich unverblümt, daß sich wegen der Umstrukturierung der Hochschule in Richtung Naturwissenschaften kaum noch jemand um sie kümmern könne.