Stasi-Archive öffnen sich

■ Die Geschichte der Oppositionsbewegung des Jahres 1989 hat nur die Stasi geschrieben / Mielke am 31.8.1989: „Wir haben die Sache einigermaßen im Griff“ / Basisdruck-Verlag veröffentlicht Dokumente / Wie hat die Staatssicherheit die alte SED-Regierung beraten?

Die Geschichte der Oppositionsbewegung im Jahre 1989 ist bisher nur an einer Stelle geschrieben worden: bei der Staatssicherheit. Ein dickes Buch mit Dokumenten dieser Lageberichte wird in den nächsten Tagen der neue Basisdruck -Verlag im Haus der Demokratie veröffentlichen. Die Dokumente geben Einblick in die Arbeitsweise dieses Amtes, vor allem aber lassen sie Rückschlüsse auf die Frage zu, die die Herausgeber Dr. Armin Mitter und Dr. Stefan Wolle in ihrem Vorwort aufwerfen: „Hielten sie die ihnen vorgegaukelte Welt der Massenaufmärsche und Erfolgsmeldungen wirklich für die Realität?“

Der Presse gaben die Herausgeber eine Kostprobe aus den Materialien. Lagebesprechung in der Stasi am 31.8.1989. Frage Mielke an den Stasi-Oberst Dangriess aus Gera: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbrechen wird?“ Antwort Dangriess: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“ Was die Dokumente über Ausmaß und Programmatik der Oppositionsbewegung aus dem Jahre 1989 berichten, ist der Bevölkerung weitgehend noch unbekannt, meinten die Herausgeber. Die Übermittlung der Informationen von Mielke an Honecker sei offenbar persönlich erfolgt.

Die Dokumente beginnen mit dem Stasi-Bericht über „Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in Leipzig im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ am 7. Januar 1989. Die Stasi hatte „streng interne Hin weise“ auf ein Telefongespräch eines Aktivisten mit dem BRD -Friedensaktivisten Gerd Bastian in der Nacht vom 14./15.1.89. Honecker ließ sich per Fernschreiben aus Leipzig über den Fortgang der Aktivitäten berichten. Die Stasi-Unterlagen listen Bürgerbeschwerden im Vorfeld der Kommunalwahlen am 7. Mai auf, berichten im Detail über die Entwicklungen unter dem Dach der Kirche, die „pessimistische“ Predigt des Bischof Gienke und des Bischof Leich, den der Stasi-Generalmajor Schwarz aus Erfurt für „nicht berechenbar“ hält.

Die Staatssicherheit diskutierte im Verlaufe des Jahres 1989 dann mehr und mehr auch über die sozialen Ursachen der Unzufriedenheit, die durch die Ausreisewelle offenkundig wurden. Zum Beispiel im Bezirkskrankenhaus Karl-Marx-Stadt. Da, berichtet Stasi-Generalleutnant Gehlert der versammelten Runde, sei das medizinische Personal über Verschiedenes unzufrieden und „die Krankenschwestern müssen, wenn es regnet, mit Eimern durch's Krankenhaus“. Der „Genosse Minister“ antwortet: „Hör mal zu. Ich will mal was sagen. Wenn Du es seit 1980 weißt, dann hättest Du ein paar Dachdecker orgnisieren können... Du kannst mir doch nicht erzählen, daß seit 1980 das Dach undicht ist.“

In derselben Stasi-Dienstbesprechung, die am 31.8.89 in den Räumen stattgefunden haben muß, die gestern zur Pressekonferenz der Buch-Herausgeber benutzt wurden, ging es natürlich auch um die Ausreiseanträge und Maßnahmen gegen den Ausreiseboom. In Reaktion auf einen Leserbrief einer Stuttgarter DKP-Frau seien bei der Karl-Marx-Städter Freien Presse „508 durch die Abteilung M festgestellte Drohbriefe“ eingegangen, berichtete Gehlert. Mielke erbost: „Warum schreiben die 100.000, die 10.000, die da sind, nicht die Briefe? Die Schweinehunde, die Feinde organisieren und schreiben Briefe...“ Generalleutnant Gehlert beruhigt: „Genosse Minister, das ist organisiert, daß positive Leute Briefe schreiben.“ Der Genosse Minister gelangt am Ende der ausführlichen Dienstbesprechung am 31.8.89 zu dem Eindruck: „Wir haben die Sache einigermaßen im Griff.“

Am 2.11.89 - damals war Egon Krenz schon Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender - hat das Ministerium für Staatssicherheit mitbekommen, daß die Lage sich dramatisch zuspitzt. Mielke weist seine Dienststellen an, die Probleme möglichst „mit politischen Mitteln“ zu lösen. Die Grundorganisationen aller SED-treuen Gruppen sollen mobilisiert werden, „es gilt, die gesamte Partei in die Offensive zu führen“. An die Leiter der Diensteinheiten geht der Befehl: „Absolute Hausbereitschaft für 50% des Ist -Bestandes der Diensteinheiten, Möglichkeit der Abwesenheit von der Wohnung bis zu 4 Stunden für 50% des Ist-Bestandes der Diensteinheiten bei strikter Einhaltung des Ab- und Rückmeldesytems...“

Am 4.11.1989 noch dankt Mielke der Stasi für ihre „standhafte Haltung“. Zwei Wochen später brechen die Stasi -Berichte an die Partei- und Staatsführung ab.

K.W. s.a. Politbüro-Dokumente Seite 7