Fluchtpunkt Zürich - Zuflucht Zürich

■ Ausstellung unterm Fernsehturm noch bis 10. April

Geboren, als Großdeutschlands Fahnen schon keinem Sieg mehr voranflatterten, kenne ich Hakenkreuzfahnen nur von Fotos her. In leuchtendstem Rot-Weiß-Schwarz empfangen nun zugleich sechs nationalsozialistische Fahnen den Besucher der in jeder Hinsicht außerordentlichen Ausstellung „Treffpunkt Zürich“. Wer im ersten Moment erschrocken stutzt, wird die Fahnen nach dem Spaziergang durch die Schau akzeptieren.

Noch nie wurde in Berlin-Ost eine derart konsequente, substanzreiche Ausstellung aufgebaut, die sich mit den Verpflechtungen deutsch-schweizer, schweizer-deutscher Geschichte und ihren Folgen beschäftigt. Reichlich mit authentischen „Requisiten“ und originalen historischen Dokumenten ausgestattet, ist die Exposition nicht nur sehenwürdig - sie ist sehenswert!

„Fluchtpunkt Zürich wurde wie ein mehrteiliges Theaterstück auf der Drehbühne inszeniert. Die Szenen „Zu einer Stadt und ihrem Theater“ zeigen „Schauplätze der Selbstbehauptung und des Überlebens“. Schauplätze sind der imitierte, nachtdunkle Grenzraum mit seinem schwankenden Boden, die detailgetreu eingerichtete Grenzstation, die plundrige Garderobe des Züricher Schauspielhauses, das vielen deutschen Theaterleuten mehr als ein Rettungsring war.

Wer vor den Fahnen nicht fluchtartig davonläuft, wer nicht stehen bleibt, wenn es heißt „Halt Schweizergrenze“, geht zeitversetzt - in ein Land'in das fast dreihunderttausend Emigranten strömten, ohne ständigen Wohnsitz zu erhalten. Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, für die Gestaltung der Veranstaltung verantwortlich, verbreitet also keinen Weihrauch. Die Erinnerungen, die mit der Exposition geweckt werden, sind auch Erinnerungen an die Schwierigkeiten, die die Eidgenossen mit den Emigranten hatten und sich mit ihnen machten. Wo nichts verdrängt wird, kann der Fluchtpunkt Zürich nicht glorifiziert, aber dennoch gefeiert werden.

Zürich war für viele Künstler mehr als irgendeine Zwischenstation. Manche theatralische Laufbahn wurde in der Stadt erheblich beschleunigt. Zum Beispiel die des Mimen, Regisseurs Wolfgang Langhoff, der KZ-Häftling war und Verfasser des Romans „Die Moorsoldaten“ ist. Ihm händigte das Schauspielhaus, jahrelang die einzige freie Bühne der deutschsprachigen Literatur, am 23. August 1935 einen „Anstellungsvertrag“ aus. Die Langhoff-Vitrinen erzählen Stück für Stück - stellvertretend - das Schicksal eines angekommenen, aufgenommenen Emigranten, der seine Rückkehr nicht aus dem Sinn verlor.

Keine selbstgenügsame Rückschau, lassen die Zeit-Zeugnisse auch keine selbstgefälligen Rückschlüsse zu. Zürich, daran läßt die durch ihre Gegenstände so anschauliche, durch ihre Foto-Text-Tafeln so strapaziöse Schau, keinen Zweifel, war für die Emigranten ein unangefochtener, anfechtbarer Zufluchts- und Zukunftsort. Die Spuren, die ins Schweizer Exil führten, die Spuren der Emigranten in einer Stadt, die Spuren, die aus der Emigration hinausführten, werden so solide, so sachlich, so sinnbildhaft nach-voll-zogen, daß es schwer fällt, in der Rolle des Betrachters zu bleiben. Man ist geneigt, es Stephan Hermlin gleichzutun, den die Schweiz nicht nur in Schutzhaft nahm. Er stand lange vor einem Gruppenfoto und forschte in den Gesichtern. Der „Fluchtpunkt Zürich“ will von jedem erforscht werden. Ohne sich anzubiedern, bietet die Ausstellung genug Gelegenheit, Vergangenheitsspuren nachzugehen, die in die Gegenwart führen.

Bernd Heimberger