Ein Fall für die Intensivstation: Das Gesundheitswesen

■ 4.000 Mediziner wünschen eigene Praxis / Virchow-Bund und andere Ärzteverbände gründen sich

Geschwächt durch den personellen Aderlaß des letzten halben Jahres (allein 1.900 Ärzte) ist es ein Fall für die Intensivstation: das Gesundheitswesen der DDR. Doch der Kollaps wurde bereits jahrelang durch zentralverordnete finanzielle Hungerkuren systematisch vorbereitet. Während in den anderen (west-)europäischen Ländern mindestens 10 Prozent aus dem Staatsbudget pro Jahr für die Gesundheit ausgegeben wurden, hatte bei uns Vater Staat knapp die Hälfte (5,2 Prozent) übrig. Mit Blick auf die eigene Existenz sind von den reichlich eine halbe Million zählenden Mitarbeitern des Gesundheitswesens auch 47.000 Ärzte dieses Landes am Überleben des schwächlichen Patienten interessiert. Die Enthusiasten blasen zum Sammeln in Bünden und Verbänden.

Am einflußreichsten bisher der Virchow-Bund der Ärzte und Zahnärzte der DDR: Mit bisher rund 10.000 Mitgliedern will er Geburtshelfer einer zu schaffenden Ärztekammer sein, wichtigstes Gremium einer funktionierenden ärztlichen Selbstverwaltung. Das Ziel: ein humanistisches und gleichzeitig effektives - sprich: marktwirtschaftliches System medizinischer Betreuung. Bedeutet das Absage an das bisherige Netz staatlicher Gesundheitseinrichtungen und Streben nach west-kompatibler Erneuerung? In der BRD liegt der Schwerpunkt auf der ambulanten Behandlung, die zu 90 Prozent in privaten Einzelpraxen besorgt wird. Als Gesundheitsminister Thielmann grünes Licht gab, ließ auch bei uns der Niederlassungsboom nicht lange auf sich warten. Über 4.000 Mediziner wünschen in eigener Praxis freies Unternehmertum zu entfalten. Das ist zunächst noch, ungeachtet der Beratung durch westliche Partner, mit der aufwendigen Suche nach Gewerberäumen und Mitteln für die Ausstattung sowie dem Bemühen um einen Vertrag mit der Sozialversicherung verbunden. Die Hoffnung auf Ausschlachten der staatlichen Polikliniken, Ambulanzen und Arztpraxen wurden einstweilen vom Minister zerstreut, - er erklärte sie zu Tabuzonen. Will man an überlebten Strukturen, uneffektiven monströsen Behandlungshallen festhalten? Der Virchow-Bund schlägt ein „pluralistisches und differenziertes Versorgungssystem“ vor. Das heißt, ein Neben - und Miteinander staatlicher, kommunaler gemeinnütziger und privater Einrichtungen. Übrigens geht in der BRD gerade aus Effektivitätsgründen ein Trend in Richtung Diagnosezentren und Gemeinschaftspraxen, denen ungefähr unsere mittleren Polikliniken entsprechen könnten. Möglich wäre auch, daß Polikliniken die Mittel zu ihrer Unterhaltung selbst erarbeiten. Mitarbeiter der Rudolf-Virchow-Poliklinik in Hohenschönhausen haben ein solches Projekt erarbeitet.

Das Damokles-Schwert fehlender Mittel schwebt über der zahnärztlichen Prophylaxe für Kinder und Jugendliche beispielhaft in Europa, allseits anerkanntes Verlustgeschäft. Nicht Fluortabletten für Teenagerzähne, sondern Prothesen für ältere Semester füllen den Geldbeutel.

Bedroht ist auch das Betriebsgesundheitswesen, obwohl die qualitativ gute arbeitsmedizinische Betreuung den Rückgang der Berufskrankheiten um mehr als die Hälfte in den letzten zehn Jahren bewirkt hat. Beispielhaft, wenn auch nicht immer von Formalismus und Möglichkeiten der Manipulation frei: die Facharztausbildung - „handwerklicher“ Test und theoretische Vertiefung nach dem Studium. Wenn der Berliner Bezirksarzt Dellas 50 arbeitslosen westberliner Assistensärzten Ausbildungsplätze anbot, dann kommen die nicht zu uns, um Entwicklungshilfe zu leisten, eher noch um unseren Absolventen die Plätze streitig zu machen. Welche Einrichtung wird sich, wenn ihr hinsichtlich erfahrener Fachkräfte und Finanzen das Hemd ohnehin zu kurz ist, über Gebühr mit aufwendiger Facharztausbildung belasten. Im „Chaos des Selbstlaufs“ und des rechtsfreien Raums werden Tatsachen geschaffen, die sich hinterher als ungerecht und unüberlegt herausstellen könnten.

Der Virchow-Bund fordert zum Beispiel, alle nach dem 8. November erteilten Niederlassungsgenehmigungen nachträglich zu überprüfen. Professor Harald Mau von der Charite warnt davor, daß „diejenigen, denen wir die heutige Misere zu verdanken haben, sich in gut gemachten weichen Betten einrichten“. Der Bund solle sich im Katz- und Maus-Spiel alter Strukturmächtiger nicht unterbuttern lassen. Probleme kann die Zersplitterung der Ärzteschaft bringen: neben dem Virchow-Bund bestehen beziehungsweise gründen sich ein Verband der Psychologen, ein unabhängiger Zahnarztverband, der Helmholtzbund. Legitimiert sind sie durch die Spezifik der zu vertretenden Interessen ihrer Mitglieder. Werden sie in ihren Forderungen an einen neuen Gesundheitsminister zu kooperativer Einigkeit fähig sein? Kann mit der neugegründeten doch vom alten FDGB-Erbe belasteten Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen eine stabile Tarifgemeinschaft gebildet werden?

Irina Grabowski