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TV-Marathon Wahl

■ Wo sitzt der Zuschauer in der ersten Reihe? / Erstmals Hochrechnungen beim Fernsehen in der DDR

Das alles soll also der Schnee von gestern sein: Die Aktuelle Kamera führt uns keine freudigen Wähler mehr vor, die mit ihrem Ja zur Einheitsliste der Kandidaten der Nationalen Front ihr Bekenntnis zu Staat und Partei ablegen. Keine Erst-, Jung- und Spätwähler werden gefilmt. Keine singenden Pioniere, keine Blumensträuße, keine Helfer mit Wahlurnen an Omas Bett.

Vorbei die Berichte vom Urnengang der Honeckers und der anderen. Alles Vergangenheit, wie so vieles nur noch für Archivare und Historiker zu gebrauchen. Die Wende macht's möglich.

Der Deutsche Fernsehfunk will am Wahlabend einen TV -Marathon bieten; will Konkurrent sein gegen ARD und ZDF. Will Wahlfernsehen bieten, wie man es hierzulande bisher nur vom Bunten-Republik-Wahlkampf westlicherseits kannte. Für den Zuschauer wird es am Abend nach dem schwierigen Wahlgang noch die Qual der Wahl des Senders geben. Wer erringt die höchste Einschaltquoten? Am Sonnabend ist noch Generalprobe. Und am Wahltag selbst geht man ab 17.55 Uhr auf den „Sender“. In beiden Programmen. Bei ARD und ZDF ebenfalls. Wo sitzt man da nur in der ersten Reihe?

Die Wahltrommel ist kräftig gerührt worden. Der Leiter der Wahlredaktion Helmut Hartung präsentierte sich bei Spiegel, Für Dich und FF Dabei. In letzterer gab er bekannt, daß Palast-Zaungäste - ohne Akkreditierung oder Gästekarte keine Chance haben.

Bereits am Sonnabend um 20.50 Uhr ist der DFF im Zweiten dabei. Live aus dem Wahlstudio, live aus dem Palast der Republik, wo das Medienzentrum steht, das die Wahlen erst eigentlich zum Ereignis macht. ARD, ZDF und DFF mit eigenen Studios im Palazzo.

Beim DFF ein Aufgebot wie noch nie. Ü-Wagen in Rostock und Berlin. Bei der SPD vorm Saalbau Friedrichshain, bei der CDU vorm „Ahornblatt“. Vor den Parteizentralen von LDP, PDS und vorm Haus der Demokratie. Die Adlershofer Journalisten bringen von dort Stimmungsberichte, Interviews und Gespräche mit Prominenten.

Aus dem Palast werden alle halbe Stunde Nachrichten gesendet. Die Auslandskorrespondenten der AK geben ein internationales Echo auf die Wahlen in der DDR. Chefkommentator wird Bert Sprafke sein, Sylvia Acksteiner moderiert.

Doch ohne ARD und ZDF läuft nichts. Gemeinsam wird die Technik gestellt. Die Konkurrenz paart sich zur Kooperation. West-Technik steht in Dresden, Leipzig und Erfurt, soll gemeinsam genutzt werden. Bildangebote und Reporter aller drei Sender sind für alle drei da.

Und natürlich - Wahlergebnisse. Erste Hochrechnungen werden gegen 19.40 Uhr erwartet. Erstmals arbeitet das Fernsehen in der DDR damit und erstmals auch mit einer ausländischen Firma.

Mit infas aus Bad Godesberg, BRD. Dieses Umfrageinstitut liefert die Zahlen auch an die ARD; Konkurrent ZDF lebt von der Forschungsgruppe Wahlen. Infas schickt in 266 Wahllokale Interviewer, die die Ergebnisse der Stimmenauszählung von dort in den Palast der Republik weiterleiten. Per Telefon!

Im Studio steht ein infas-Computer, dem diese Zahlen eingegeben werden. Ab einem bestimmten Quantum können erste Trendzahlen gegeben werden. Vergleichswerte zu früheren Wahlen gibt's ja nicht. Gleichzeitig liefert ein ABM -Computer Zahlen von der Wahlkommission.

Ein vorläufiges Endergebnis sieht die Vorsitzende der Wahlkommission, Petra Bläss, erst gegen Mitternacht. Und damit die Zeit bis dahin nicht zu lang wird, gibt sich im Palast die Politikerprominenz und die High Society aus Ost und West ein Stelldichein. Von Brandt über Guillaume bis Markus Wolf, die jedenfalls sind eingeladen. Illustre Spannung, wenn die sich über den Weg laufen. The Show must go on.

Gefragt sind natürlich die kommenden DDR-Spitzenpolitiker, die Sieger und die Verlierer. Nach den ersten Hochrechnungen will man die vor den Kameras und Mikros sehen, Rede und Antwort stehend zum Wie-weiter. Der DFF nennt das „Politiker zur Wahl“. Gegen 21.45 Uhr steigt die Runde. Mit Böhme? de Maiziere? Gysi? Bernhard Büchel, Intendant des Zweiten, will sie ins Kreuzverhör nehmen. Die Konkurrenz bringt 22.15 Uhr die „Bonner Runde“. Eine Elefantenrunde um Vogel, Kohl...?

Wir werden sehen, wie der DFF dieses „Wahnsinnsprojekt“ Wahl '90 packt. Alles ist neu. So ein gigantisches Unternehmen gab es noch nie. Keinerlei Erfahrungen, auch bei den Journalisten nicht, die auf diesem Gebiet Greenhorns sind. Und neu ist das Gemeinschaftsunternehmen mit ARD und ZDF. Neu sind die Schlepper, die mit Walki-Talkis und festen Händegriffen die „Promis“ vor die TV-Kameras ziehen sollen. Pannen lauern überall, das ist bei Livesendungen solcher Art nicht zu vermeiden, aber die machen das Ganze doch viel lockerer.

Der Platz in der ersten Reihe der Plüschsessel zu Hause ist jedenfalls sicher. Wer die Nase voll hat, kann immmer noch den Knopf drücken. Die Wahl fällt allemal leichter als das sonntägliche Ankreuzen.

Arthur Sonneberg

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