Legende von der Demokratie neuen Typs

■ Ein Rückblick auf 200 Tage vergessene Gegenwart / Die vier Etappen des friedlichen Umbruchs

Die Legende von der Demokratie

Tagebuch einer gescheiterten Revolution - Seite 2/3

DDR pleite

Dokument: Brief an Honecker - S. 4

In den Mai

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D I E N S T A G 19 . M Ä R Z 1 9 9 0 12.WOCHE NR.18

Vorherbst

Noch im Frühjahr fragten sich die wenigen Aufrechten besorgt, wie bringt man ein sattes Volk auf die Straße, ohne die bisher landesüblichen Quälereien zu benutzen?

Schon mehrere Jahre war aus der Sowjetunion hoffnungsvolle Erhellung zu erkennen. Viele wünschten, daß dieses Licht der demokratischen Reformen nun auch hier zu leuchten begänne. Die unzumutbare Zwangsbrüderschaft begann sich langsam zu lösen.

Während die kleinen Bürger langsam ihr östliches Mißtrauen ablegten, begannen die alten Herrschaften aus der ersten Reihe der SED ihre rosa Brillen für den Ostblick mit tiefschwarzen zu vertauschen.

Auch war es so, daß M. S. Gorbatschow, der neue Heldensohn aus der Sowjetunion, in Europa und auch in der DDR mehr geliebt als verstanden wurde. Westmedien und Ostvisionäre aller Art forderten ihn auf, der begrenzten Republik endlich Räder zu verpassen. Er tat es aber nicht. Aus der Geschichte seiner eigenen Revolution wußte er, daß die beste Absicht durch jegliche Gewalt zerstört wird, die von ihr ausgeht.

So sah es ganz danach aus, daß es ruhig, aber ungemütlich im Lande zwischen Oder und Elbe bleiben würde. Allerdings arbeiteten die greisen Herrscher auf sehr dialektische Weise an den Veränderungen, die im Herbst folgen sollten. War der bisherige Umgang mit aufrecht Denkenden schon unerträglich, bewiesen die Reaktionen auf die Reformen im übrigen Osteuropa, daß die Altherrenriege schon lange nicht mehr in dem von ihr regierten Land lebte. Unvorstellbar bleibt heute noch die Fremdheit, mit der die Verwaltungsfürsten des SED -Staates täglich dem Leben auf ihren Territorien begegneten. Sie erfuhren jedes Detail, hatten aber keine Ahnung vom Ganzen. Dieser Realitätsverlust paarte sich mit Schulmeisterei, dem Saatsvolk wurde immer wieder erlärt: Der Kaiser hat seine weltbesten Kleider an. Die umgeschriebene Kommunalwahl und das überteuerte Pfingsttreffen der FDJ zeigten immer klarer den Verlust der Kompetenz der alten Kämpfer gegen Faschismus und Krieg.

Die Ignoranz-Party zu Pfingsten war die vorletzte Verausgabung von Aurich und Kollegen, von der sie sich nicht mehr erholen konnten. Im „FDJ-Aufgebot 40“ scheiterte die staatliche Jugendorganisation mit einem drolligen Reformversuch. Die demokratische Selbstfindung reichte nur bis zum Fackelzug. Kein Wunder, daß heute kaum noch jemand etwas von der FDJ wissen will.

Anders der Wahl-Coup. Der blieb ein politischer Dauerbrenner bis in den Wahlkampf '90 hinein. Doch zu jener Zeit ist daran noch kein Gedanke verschwendet worden. Für die SED-Spitze kamen angenehme Nachrichten aus dem Reich der Mitte: himmlischer Frieden in Peking, als die Panzer wieder standen und der Rauch sich verzo

gen hatte. Friedhofsruhe in China? Mit der mehrfachen Wiederholung einer Sendung des chinesischen staatlichen Fernsehens im DDR-TV, wurde offiziell zum Ausdruck gebracht, wie man gedachte, über reformierten Sozialismus nachzudenken und praktisch zu verfahren. Das China-Syndrom und die Vision eines Tien-An-Men-Platzes im Zentrum von Berlin oder Leipzig brachte Unruhe ins Land.

Am 2. Mai, einen Tag nach durchexerzierter, staatlich verordneter Mai-Demonstration unter Ausschluß ungeladener Gäste, öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich. Die unter den politischen Zuständen der DDR vergrabene Zeitbombe wurde scharf gemacht. Die Grenze blieb offen, der Reiseverkehr in das Mekka am Balaton für die Ostgermanen visafrei - die Visapflicht nach Polen hatte die Touristen arg getroffen, mit denen war nicht gut Kirschen essen, auch wenn es die Bombenleger aus dem ZK gerne anders gesehen hätten.

Die Sommerferien kamen und die Völkerwanderung der DDR -Bürger begann. In Berlin, Prag, Warschau und Budapest wurden die BRD-Botschaften und -Vertretungen von den Ausreisewilligen in Camping-Plätze verwandelt, immer mehr Menschen gelang es, über die grüne Grenze nach Österreich zu türmen. Die täglichen Zahlen der Flüchtlinge wurden zum Dauerthema für die Saure-Gurken-Zeit und das Sommerloch in den westlichen Medien. Im DDR-TV wurde die Sommergerste eingefahren, das daraus gebraute Bier hatte einen schalen Beigeschmack, die Stimmung im Land war unerträglich geworden. Kein Arbeitstag konnte so anstrengend sein, wie die neuesten Nachrichten im Ost-West-Überblick. Ost- wie West-Medien schienen sich zum Tritt in den Unterleib der DDR -Zuschauer vereinigt zu haben. Hier wurden getürmte Freunde und Bekannte als unwürdig und wertlos beschimpft, ihnen keine Träne nachgeweint, dort machten gerade diese Stimmung gegen die „Hierbleiber“, die noch immer in diesem Dreck -Staat herumhockten.

Honecker hielt den Spruch bereit: den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs‘ noch Esel auf. Vier Tage später, am 20. August, demonstrierten 500 DDR-Bürger ihr Verständnis für die Worte des Landesvaters und nutzten ein Volksfest am Schlagbaum bei Sopron zur Massenflucht. Honecker erkrankte, die Politik lag lahm. Dem wie ein Sommergewitter blitzartig aufgetauchten ungarischen Außenminister Horn verpaßte man in Berlin eine nichtssagende Erklärung, es bestünden Vereinbarungen, an die man sich zu halten habe. Budapest verhandelte weiter mit Bonn, dort war die für die Donau -Metropole unhaltbare Situation leichter zu klären. Am 11. September reisten fast 7.000 DDR-Bürger aus Ungarn aus. Ungarn spielte nicht mehr den Häscher für die DDR.

Mit den ansteigenden Flücht

lingszahlen wuchs die Spannung und das Unverständnis im Land, in Leipzig wurden erste Demonstrationen trotz massivem Polizeieinsatz organisiert. Nicht die Menschen, das Regime lebt in der Agonie. Am 12. September unterzeichneten in Berlin unter anderem Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß den Gründungsaufruf für die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ unter dem Titel „Aufruf zur Einmischung“. Zuvor waren bereits der im illegalen Zeitungsmarkt verbreitete Böhlener Appell „Für die Vereinigte Linke in der DDR“ und der wohl bekannteste Appell „Aufbruch '89“ der Initiativgruppe „Neues Forum“ erschienen. Allen war die Suche nach Auswegen aus der Krise der DDR für die Menschen gemein. Die einzige Forderung lautete: Dialog.

Die Ausreiß-Welle gewann an Eigendynamik und wirkte als Katalysator für bevorstehende Veränderungen im Land. Vor allem förderte das entsetzliche Klima des langsamen Absterbens der Vision vom real existierenden Sozialismus das Anwachsen der neuen Gruppierungen. Am 14. September verkündete Pfarrer Edelbert Richter in Bonn (!) die Gründung der Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ und der Schriftstellerverband forderte den Dialog auf allen Ebenen. Am 18. September unterzeichneten Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler eine Resolution und forderten darin den öffentlichen Dialog, denn: „Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns.“ Welche Weitsicht!

Die erste und größte nicht staatlich organisierte Demonstration fand am 24. September in Leipzig statt. Die Ausreisewilligen waren in der Minderheit. Rufe nach Zulassung des „Neuen Forums“ und „Wir bleiben hier“ bestimmten die Szene. Es begann der Herbst.

Zwei Monate Hoffnung

Die drei Thesen der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ für eine demokratische Umgestaltung in der DDR standen für das gesamte Spektrum der Oppositionsgruppen als programmatische Basis: 1. Vom Obrigkeitsstaat zur Republik. 2. Von der Verstaatlichung zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel. 3. Von der Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt zu einem dauerhaften Zusammenleben mit der Natur. Erst viel später war man sich praktisch uneinig geworden. Solidarität war zu diesem Zeitpunkt noch mehr als eine Losung.

Daß es sich nicht mehr um eine intellektuelle Zirkelrevolte handelte, wurde immer deutlicher. Obwohl Wissenschaftler und Künstler sich immer stärker zum Vorreiter für Perestroika in der DDR machten, wuchs die Bewegung in die Breite. Am 29. September wendeten sich Gewerkschafter des VEB Bergmann Borsig an Harry Tisch,

den damaligen FDGB-Chef: „Die Hiergebliebenen sind nicht die Zufriedenen.“ Doch die Führungskamarilla reagierte nur noch kurzatmig: Polizeiknüppel für den „Inneren Feind“, Sonderzüge für „Die Verräter“. 7.000 Menschen rollten gen Westen, die Medien verbreiteten, der Westen hat Schuld. Einen Tag später, am 2. Oktober waren 20.000 BürgerInnen in Leipzig auf der Straße. Die Sicherheit war verwirrt und hielt still.

Befreiungsschlag auf Befreiungsschlag folgten und zielten ins Leere. Am 3. Oktober waren wieder Tausende in die Prager BRD-Botschaft eingedrungen, um sich eine Fahrkarte in den Westen und in die Freiheit abzuholen. Am 4. Oktober reisten 10.000 Menschen in Sonderzügen über das Territorium der DDR in die BRD aus, ausgebürgert und endgültig ohne Rückfahrschein. In Dresden und an der Strecke, die die Züge nahmen, kam es zu Tumulten und Ausschreitungen. Die Polizei schlug zu. Wasserwerfer und Knüppel machten den Platz wieder frei. Die Opposition forderte freie Wahlen unter UNO -Aufsicht. Noch einmal sperrte sich die DDR ein, verriegelte die Grenzen zu Westberlin. Man feierte einsam den 40. Geburtstag. Im Licht des Fackelumzuges der FDJ, größenwahnsinnigem Feuerwerk und mit demagogischen Bekenntnissen, sollte der real existierende Sozialismus vor den Kameras der Welt noch einmal erstrahlen. Hinter den Kulissen doppelte Sicherheit, kein Störer sollte die Chance bekommen, Prutos‘ Schauspiel für das Volk zu sabbotieren. Aber es wurde eine Geisterstunde. Gorbatschow sprach das Orakel von Berlin: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Auf der Ehrentribüne stand der Warschauer Pakt noch vereint. Michail Sergejewitsch ist heute der einzige noch im Amt befindliche Politiker dieser Runde. Er behielt mehr recht als ihm vielleicht lieb sein konnte. Der vulgäre Tanz auf dem Vulkan mußte mit einem Ausbruch enden. Noch am selben Abend und am 8. Oktober werden Demonstrationen in Berlin, Leipzig, Dresden, Plauen, Jena und in anderen Orten regelrecht zerschlagen. Tausende „Zugeführte“, Verletzte und Mißhandelte waren das Ergebnis, man probte die Niederschlagung der Konterrevolution.

Am 8. Oktober sagte der Rias-TV-Sprecher mit einem Grinsen: „Das ist heute der Tag X.“ Viel könnte er damit gemeint haben. Sicher ist, daß diese letzte Beweisführung zu Unverstand und Knüppelgeist des alten Regimes eine Breite und Einheit der demokratischen Kräfte erzeugt hatte, die für heutige Verhältnisse schon wieder märchenhaft erscheint. Der Aufschwung wurde weniger erstritten als erduldet und war somit um so gewaltiger. Leipzig wurde zum Barometer der Bewegung, zur Heldenstadt, bis zu ihrem bitteren Ende. Im Oktober stieg ständig die Zahl der TeilnehmerInnen an der Montagsdemo von 70.000 am schicksalhaft friedlichen 9. Oktober bis auf 300.000 am 30. Oktober.

Noch deutlicher als diese Zahlen drückten tausendfache Foren in Leipzig, Berlin und Dresden aus, daß dieses Volk nun sich sein Recht genommen hatte. Untersuchungskommision und vielfältige Veranstaltungen beschäftigten sich mit dem bald genannten Oktoberereignissen. Die Qualität des demokratischen Selbstbewußtseins und des DDR -Selbstverständnis zeigte sich am 15. Oktober in der Erlöserkirche. Dort gaben in ihrer Mehrzahl die Unterzeichner des Aufrufs vom 18. September ein beeindruckendes Zeugnis von ihrer starken Identität. Zwischen den Auftritten sprach vom unabhängigen Studentenvertreter bis zum SED-Abgeordneten ein Volk und erteilte den Ausreisenden als auch den Wiedervereinigern seine Absage.

Unvergessen bleiben auch die bestürzten und beleidigten Massen im Westfernsehen, weil da tatsächlich niemand nach Deutschland rief, außer ihnen. Doch dann kam Egon.

Bis zum 18. Oktober hatte die SED-Spitze nicht wirklich auf die Entwicklung im Lande reagiert. Schweigen sollte das Mittel für Verhindern, Behindern und Begrenzen sein. Ab und zu wurde auch einfach verleumdet. Das alles führte zu nichts als zur größeren Ausreisewelle aus der SED. Dialog wurde immer nur erzwungen, geduldet und nie verständlich ermöglicht. Sogar die Blockflöte LDPD wurde gemaßregelt, als ihr Vorsitzender Manfred Gerlach zu Recht forderte, niemanden aus dem Dialog auszugrenzen. Und die Genossen aus Leipzig und Dresden mußten auf eigene Gefahr und erst mit nachträglicher Bestätigung sich den eigenen Wählern stellen. Da erklärte das SED-Politbüro plötzlich, am 11. Oktober: Wir stellen uns der Diskussion. Der Text wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Erstens hatte es den Eindruck, daß er von zwei unterschiedlichen Autoren stammt. Zweitens wurde darin nicht mehr gesagt, als das die SED-Führung das will, was alle wollen, und drittens ging es nach dem 7. Oktober mit Dialog schon nicht mehr nur um freundlichen Gedankenaustausch. Kurz gesagt, „Reformen a la Hager sind uns zu mager“, hieß es in Berlin am Montag, und in Leipzig gingen 120.000 Menschen auf die Straße. „Da helfen keine Pillen, den Boss müssen wir jetzt killen“, sprach Egon und am 18. Oktober hatte die SED ihren neuen General-Sekretär. Die Opposition war mehr als verwundert: Der Kommunalwahlfälscher und Pekinger Massakergratulant kann ihr Wunschtraum nicht gewesen sein.

Der neue Mann mit den gesunden Zähnen machte dann jede Menge Fehler und demonstrierte, außer dem erlösenden zusätzlichen Abgang von Mittag und Hermann, daß sich nichts geändert hatte. Ohne jede staatliche Funktion nahm er sich die Hauptsendezeit des Fernsehens und sprach zum

Volk, als hätte es nie einen Unterschied zwischen SED-Macht und DDR-Volk gegeben. Da machte es auch nichts, daß er immer mal wieder alle Bürgerinnen mit Genossinen und Genossen anredete. Er wollte wie Gorbatschow sein und blieb doch ein Epigon. Besonders gut kam noch der Knicks zum ausgeschiedenen Erich Honecker an, und schon waren alle Punkte verspielt. Das sollte von da ab so bleiben. Bis Helmut Kohl in die DDR einmarschierte.

Im Land blieb die Stimmung weiterhin gereizt. Dem alten FDJ -ler wurde besonders die Behauptung übel genommen, daß er selbst samt Apparat die Wende eingeleitet haben wollte. Der Verdacht der Vereinnahmung wird Krenz durch seine gesamte Amtszeit begleiten. Trotzdem wollte Rolf Henrich 100 Tage Schonzeit für den neuen Mann. Doch wer hatte damals schon so viel Zeit.

Am 20. Oktober forderte der Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow beim Besuch des FDP-Politikers Hans Mischnik in der Sachsen-Hauptstadt, daß es nun endlich Zeit für Reformen sei. Am 21. Oktober demonstrierten in Plauen 30.000. Die kleine Stadt im Vogtland wurde zur Demofrontstadt, Losungen und Sprechchöre nahmen den Charakter des kommenden deutschen Winters an. Selbst vor der Volkskammer und dem Staatsrat riefen Tausende: Egon Krenz - keine Lizenz. Krenz‘ Antrittsrede als neuer starker Mann zeigte sich moderat, aber sie enthielt wenig Angebote, außer, daß man Vertrauen zurückgewinnen wolle, und das war zu wenig.

Am 27. Oktober wurden Republiksflüchtige und nicht gewalttätige Demonstranten amnestiert. In einer Vielzahl von Gefängnissen begann der Kampf um die Erweiterung der Amnestie.

Doch Amnestie bedeutete nicht Rehabilitierung und schon gar nicht Aufklärung über Geschehenes.Schriftsteller und Künstler forderten eine Untersuchungsausschuß bei der Volkskammer, der sich mit Amtsmißbrauch und Korruption beschäftigen sollte. Walter Janka, deutscher Kommunist und Spanienkämpfer wurde zur Schlüsselfigur und Gradmesser wirklicher Erneuerung. Die Verfolgungsgeschichte des ehemaligen Leiters des Aufbau-Verlages bringt ein neues Kapitel dunkler DDR-Geschichte an die Öffentlichkeit und ist der Anfang einer Welle von Enthüllungen und Untersuchungen. Die erste Presse-Leiche hieß Nennstiel. Die Medien-Welle bedrohte auch das Heiligste der oberen Genossen - ihren privaten Lebensstil.

Nach 1.519 Folgen wurde der Schwarze Kanal von Sudel-Ede abgesetzt und der adlige Dialektiker kalt gestellt.

Am 29. Oktober forderten LDPD, CDU und NDPD ihre Eigenständigkeit ein und die CDU sogar freie und geheime Wahlen.

Am 30. Oktober wird in Leipzig gefordert: Schluß mit mit dem Führungsanspruch. Die Bewegung konzentriert sich auf einen neuen Angriffspunkt: Artikel eins der Verfassung. Forderungen nach einem Runden Tisch wurden immer lauter. Auch der Ruf nach Rücktritt der SED-Spitze schwillt an. Der Krenz-Besuch in Moskau bringt außer dem traditionellen Schulterschluß mit der SU nichts Neues, eher Unmut und viele neue Demos. Am 2. November gehen Margot Honecker und Harry Tisch. Beide Abdankungen verdeutlichten, wie we

nig Spielraum Egon Krenz zu diesem Zeitpunkt noch hatte. Gleichzeitig wuchs die Angst über einen erbitterten Rückschlag , Putschgerüchte machten die Runde, die Stasi wurde zum neuen Angriffsfeld der Opposition. Der Ex -Generaloberst des MfS, Markus Wolf, forderte, ähnlich wie der OB von Berlin, Erhard Krack, die öffentliche Kontrolle über die bewaffneten Organe.

Diese Diskussion brachte die von Berliner Künstlern geplante Demonstration für Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in eine besondere Situation. Die bereits MItte Oktober von einer Künstlerinitiative geforderte Demo bewegte sich nicht in der vierwöchigen Anmeldepflicht. Damit hatte sie aber gleichzeitig eine bisher und dann später auch nicht mehr erreichte Öffentlichkeit in der Vorbereitung. Ein neuer Höhepunkt deutete sich an . Selbst die Polizei konnte nun nicht umhin, Hilfe anzubieten. Das Wort 'Sicherheitspartnernschaft‘ wurde geprägt. Unruhe und Erwartung hielten sich im Vorfeld die Waage. Dann war es Sonnabend, und mehr als eine halbe Million Menschen kamen mit bunten und frechen Plakaten auf den Alexanderplatz. Das Fersehen übertrug live. Das Volk war auf der Straße und machte die Polizei zu ihrem Freund und Helfer. Die Reden wie auch die selbstgemalten Losungen waren so breit angelegt wie die DDR-Politlandschaft damals noch war. Am 4. 11. war die DDR nah am Ziel. Wenn SED-Redner ausgepfiffen wurden, hatten sie es verdient, und es wurden nicht alle so geschmäht wie der Brüll-Löwe Schabowski. Es regierte die Vernunft der Straße, und das war der Höhepunkt der Gemeinsamkeit.

Tags zuvor hatte Egon Krenz noch im Fernsehen gesprochen. Die alte Garde, Axen, Hager, Mielke, Mückenberger und Neumann, wurde noch schnell gefeuert. Ein Aktionsprogramm wurde angekündigt. Doch die Salamitaktik wandte sich gegen ihre Erfinder. Nicht genug, daß der 4. November alle Befürchtungen vor Unvernunft widerlegte - die Ankündigungen von Gesetzen und Reformen blieben danach nur lahmes Hinterherhinken, und der Ausreisestrom war damit schon gar nicht zu stoppen. Der Weg zurück war endgültig versperrt.

Der am 6. November veröffentlichte Entwurf eines neuen Reisegesetzes brachte dann alles zum Ende. Die Montagsdemo in Leipzig zeigte deutlich: Nach soviel Halbheiten ging die Gefahr von der politischen Führung des Landes aus. Dafür wurde sie von den Leuten gehaßt.

Tags darauf trat die Regierung mit ihren 44 Ministern zurück und wieder 24 Stunden später kam das SED-Poltibüro an die Reihe. Doch die Genossen im ZK sind keine Radikalen! Am 8. November wurde Krenz blitzschnell wiedergewählt. Und das neue Politbüro war nur ein zusammengewürfelter Haufen.

Hans Modrow war der einzige wirkliche Gewinn. Nun hatten auch die SED-Genossen genug. 5o.ooo standen vor dem ZK und buhten den wendigen Günther Schabowski aus, als er die Liste des neuen-alten Politbüros verlas. Abends kam noch Egon und wollte die Genossen anfeuern. Doch er war zu sehr sein eigenes Opfer, als daß er die Rufe nach einem Sonderparteitag wirklich verstehen konnte. Artig klatschte sich Egon selbst zu und verschwand wieder. Die Bedrückung blieb, auch wenn alle nach Hause gingen.

Am nächsten Tag geschah es dann: Günther Schabowski verkündete für den 1o. November, 8.00 Uhr, die Reisefreiheit. Alle waren überrascht und schon um Mitternacht war die Grenze in Berlin nur noch eine Linie.

Noch ahnten es wenige - das war das Ende der Eigenständigkeit.

Deutscher Winter

Im November 1989 wurde es früh frostig. Aber nicht das allein, die Minusgrade, machten eine Woche nach dem großen 4. 11. die Demos in Leipzig und Dresden kleiner als erwartet. Bärbel Bohley vom „Neuen Forum“ bescheinigte der Regierung Inkompetenz. Die Großmutter der Revolution hatte recht.

Wenn alle DDR-Bürger gesehen hätten, wie der Bundestag in Bonn von Grün bis Schwarz vor Freude das Deutschland-Lied gegröhlt hatte, dann wäre der von Christa Wolf im Fernsehen verlesene Appell, hierzubleiben, sicher stärker beachtet worden. Aber das wäre wohl eine genauso große Fehleinschätzung gewesen wie der Glauben von Egon Krenz, daß damit der Sozialismus zu retten gewesen wäre.

Noch am 1o. November wurde Helmut Kohl in Westberlin mit seiner Wiedervereinigungsvision ausgepfiffen. Doch die Zeiten änderten sich.

Noch versuchte das runderneuerte Politbüro die Karte 'Hans Modrow‘ auszureizen. Am 17. 11. 89 wurde die neue Regierung präsentiert und der neue Ministerpräsident gab eine starke Regierungserklärung ab. Doch die Machenschaften der Vorgänger überlagerten alle Versuche zu einem Neubeginn. Vertragsgemeinschaft und wirtschaftliche Öffnung wurden im Westen und auch von vielen DDR-Bürgern als Bankrotterklärung gewertet.

Immer neue Veröffentlichungen trübten allgemein die Aufbruchstimmung, und die Volksfeste im Westen leisteten ihren Beitrag dazu. Immer mehr berechtigte Befürchtungen wurden von oppositionellen VordenkerInnen geäußert und Kanzleramtsminister Seiters gibt ihnen am 2o. November recht. Bei seinem Besuch in Berlin setzte er in diktatorischer Art die DDR-Führung unter Druck. Kurz: Geld für die Wirtschaft gibt es nur, wenn ihr werdet wie wir. Das setzt voraus, ihr macht ab jetzt das, was wir wol

len.

Ein Forderungskatalog wurde unterbreitet, der nicht nur unberechtigt war, sondern insgesamt die Regierung Modrow an die Wand drückte. Die Opposition war natürlich für freie Wahlen, Zulassung ihrer Organisationen, Streichung des Artikels 1 aus der Verfassung und noch für manches mehr, das der Bundeskanzleramtsminister gefordert hatte. Aber daß der ihre Forderungen durchsetzen und gleichzeitig den Kanzler zum Trittbrettfahrer der DDR-Opposition machen wollte, konnte für sie nichts Gutes bedeuten.

Am 28. November legte Kanzler Kohl die Karten auf den Tisch. Zehn Stufen bis zum Anschluß ist sein Plan. Die ewig unbequemen Christa Wolf, Stephan Heym u.a. erkannten die Gefahr und forderten in einem Appella, einzutreten „Für unser Land“. Fast zwei Millionen unterschrieben ihn. Doch bewirkt hatte er nichts. Auch der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz unterzeichnete diesen Aufruf zum Entsetzen der Initiatoren. Dieser Mann sollte ihn doch als Kampfaufforderung überreicht bekommen! Das konnte er aber nicht ahnen, denn für ihn sah es ja aus, als sei das der Rettungsring. Krenz war inzwischen neben Hans Modrow ins politische Abseits geraten. Der hatte sich schnell in der großen Politik zurechtgefunden, und es schien so, als behinderte ihn Krenz nur.

Als am 1. Dezember die Volkskammer ganz schnell den Artikel 1 zu den Akten legte, legen mußte, traten noch beide SED -Politiker auf, denn der Bericht des Untersuchungsausschusses schlug solche Wellen, daß nicht nur den Abgeordneten schlecht wurde. Egon Krenz kämpfte dabei wie Dong Quichote gegen Windmühlenfllügel an. Er kam gegen seine exponierte Vergangenheit nicht an. Und das ruhige, aber große Format von Hans Modrow besaß er eben nicht.

Am 3. Dezember erzwang die Parteibasis, was Volk und Opposition schon lange wollten, nämlich den Abtritt von FDJ -Egon und des gesamten Politbüros und des Zentralkomitees der SED.

So hatte die Partei keine Führung und auch keinen gesetzlichen Anspruch mehr. Der viel zu spät lzuzgebilligte Sonderparteitag sollte eine Woche später beginnen. Es stellte sich heraus, daß nichts vorbereitet war. Die Arbeit übernahm jetzt ein Arbeitsausschuß, bestehend aus in der Mehrzahl noch unbekannter Personen.

Ab da ging alles noch viel schneller als zuvor. Mit dem Austritt der CDU, der alle anderen Parteien folgten, löste sich die Nationale Front auf.

Der Zwangsumtausch entfiel, ein Devisenfonds wurde gebildet, so beschlossen Hans Modrow und Rudolf Seiters.

Manfred Gerlach wurde neuer, aber nur amtierender Staatsratsvorsitzender. Er ekelte sich dabei etwas.

Am 7. Dezember tagte der erste „Runde Tisch“ im Dietrich -Bohnhöfer-Haus. Teilnehmer waren die fünf Regierungsparteien, der FDGB, die SDP, das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, Demokratie jetzt, der Unabhängige Frauenverband, die Initiative für Frieden und Menschenrechte, die Grüne Partei und die Vereinigte Linke. Erstes Ergebnis war der Termin für die Volkskammerwahlen am 6. Mai 199o.

Die folgenden Wochen wurden durch schwierige Beratungen am Runden Tisch und durch wöchentlich stattfindende Sonder bzw. Gründungsparteitage geprägt. Bis in den Januar 1990 versuchten neue und alte Parteien und Bewegungen ihr Gesicht zu finden. Dabei war es für alle die Aufgabe mit dem Thema 'Wiedervereinigung‘, mit der sie fertig werden sollten. Die Rede Helomut Kohls am 2o. Dezember 1989 war mehr als ein Schreckgespenst gewesen.

Am besten gelang es der CDU, mit dem Problem fertig zu werden: Anschluß an die namensgleiche Partei im Westen und damit hatte es sich!

Der Demokratische Aufbruch wechselte von den Farben Rot/Grün zu Schwarz/Rot/Gold und verliert dabei seine besten Leute.

Die SDP vergißt innerhalb von vier Wochen ihre These von der Zweistaatlichkeit. Mit gleicher Geschwindigkeit wird die Reihenfolge der Buchstaben verändert zu SPD. Nach diesem einfachen Rezept ist man nicht nur neue, sondern auch gleich noch große Partei geworden.

Das sind nur ausgewählte Beispiele eines Prozesses, der beim DDR-Bürger in heutiger Zeit das Gefühl erzeugte: Hier ist schon wieder alles ohne mich gelaufen.

Am schwersten hatte es dabei die SED. Der Sonderparteitag mit der großen Pause konnte die existenzielle Krise nur kurz unterbrechen. Die Vergangenheit war nicht abzustreifen: Stasi, Nasi und KoKo bewirkten, daß drei Viertel der Mitglieder die Partei verließen (bzw. bereits verlassen hatten). Von neuem Vertrauen sollte man lieber gar nicht erst reden... Auch wäre der schnelle Anschluß an die BRD mit Sicherheit der schnelle Tod der Partei gewesen. So klammerte sie sich an die DDR und versuchte, mit neuer Führung wieder Fuß zu fassen.

Die Troika Modrow, Gysi und Berghofer, nunmehr SED/PDS, war auch schwer zu schlagen. Die Opposition schaffte es nicht allein, der alte Block traute sich noch nicht. Geschafft hat es dann der viel besprochene Apparat des alten Systems: kaum war die Stimmung besser, trampelten altbekannte Gestalten in altbekannter Manier wieder los und wollten altbekannte Verhältnisse wiederhaben.

Am Runden Tisch kam es sofort zu Jahresbeginn 199o zum Krach. Nicht zu Unrecht bemerkte die Opposition, daß die SED/PDS wieder an Kraft gewonnen hatte und den bedrohlichen Nationalismus nutzte, um an Terrain zu gewinnen.

Auch die Regierungsvertreter erzeugten den Eindruck, daß hier schon wieder hinter verschlossenen Türen ge- und verhandelt wird.

Der Druck auf die ehemalige Staatspartei nimmt lüberall zu. Am Runden Tisch tritt erst die Wende ein, als Hans Modrow persönlich dort erscheint. Doch am selben TAg zeigt sich bereits, wie groß die Gefahr für die Entwicklung im Lande war.

Am 15. Januar wird die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße während einer Veranstaltung des Neuen Forum gestürmt. Eigentlich sollte gegen die verzögerte Auflösung der Überwachungszentrale protestiert werden, aaber die Stimmung ist ähnlich unterschätzt worden wie am kBrandenburger Tor zum Jahreswechsel. Die Veranstalter waren auch hier nicht mehr der kSituation gewachsen.

In den folgenden Wochen entwickelte sich trotz dieses schwierigen Beginns eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Rundem Tisch, wie sie besser nicht hätte sein dürfen. Nur die Volkskammer kam dadurch wieder in eine zeitweilig zweitrangige Position. Am 19. und 21. Januar ereilte die SED/PDS das, was man eine Existenzkrise nennt. Aufruf zur Auflösung und der Austritt von Wolfgang Berhofer brachten diese Partei an den Rand der Reaktionslosigkeit. Wer ihren Platz einnehmen würde, war ungewiß. Aber da war ja noch die reiche Alternative im Westen... Der vorverlegte Wahltermin und die Bildung der Regierung der nationalen Verantwortung waren zwar Entscheidungen ohne Absprache mit Bonn. Aber schon der Gegenbesuch der Regierung Modrow brachten die Möglichkeit, sehr deutlich zu machen, wie und wer die deutsche Zukunft bestimmen würde. Der Zusammenhang zwischen SED und DDR war wohl doch tiefergehender als viele glauben wollten.