: Übersiedlerstrom reißt nicht ab
■ Obwohl deutlicher Rückgang der Ausreisewilligen nach dem Wahlsieg der CDU reist der Strom in den Westen nicht ab / Bundesdeutsche Mauer aus Paragraphenzeichen? / Termin für den Abriß der Mauer noch offen
Auch nach dem Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ reißt der Übersiedlerstrom in die Bundesrepublik nicht ab. Zwar kamen nach Informationen des Bundesinnenministeriums am Montag nur 1.539 Übersiedler ins Bundesgebiet, doch kann aus dieser Zahl noch kein genereller Trend hergeleitet werden.
Im Notaufnahmelager Marienfelde beantragten in der Zeit von Montag bis Dienstag 11.00 Uhr 146 DDR-Bürger die Aufnahme. Auch dort sprach man noch von keiner Trendwende. Insgesamt verlegten in diesem Jahr 144.062 DDR-Bürger ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik.
Nach Ansicht von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), werden erst schnelle Reformen in der Wirtschaft und im Sozialwesen der DDR die Übersiedlerströme zum versiegen bringen. Auf einer Versammlung seiner Partei wandte er sich gegen horrende Rechnungen, die für den Wiederaufbau der DDR aufgemacht würden. Er erklärte, es handele sich um Investitionen, die Gewinne brächten und prophezeite einen „gewaltigen Aufschwung“. Des weiteren kritisierte er das Verhalten der SPD in der DDR, die ein Koalitionsangebot der konservativen „Allianz für Deutschland“ ausgeschlagen hat. Die SPD wolle sich nicht an der Verantwortung beteiligen, obwohl sie vor der Wahl eine breite Basis gefordert habe.
In Hannover forderte der Vizepräsident des Deutschen Städtetages, Herbert Schmalstieg (SPD), die sofortige Schließung der Notaufnahmelager für übersiedler. In einem Interview der 'Neuen Presse‘, Hannover, sagte der Oberbürgermeister der niedersächsischen Landeshauptstadt, die Städte der Bundesrepublik sollten dem Beispiel Bremens folgen und alle Übersiedler, die nicht von den Kommunen aufgenommen werden können, in die DDR zurückzuschicken. Würden die Menschen nicht zurückgeschickt, verlagere sich das Problem lediglich auf die Städte und Gemeinden Westdeutschlands. Es könne nicht weiter hingenommen werden, daß Menschen aus der Bundesrepublik schlechter behandelt werden, als jemand, der aus der DDR kommt.
Währenddessen tagte am Dienstag das Bundeskabinett in Bonn. Unter anderem stand dort die Lösung des deutsch-deutschen Übersiedlerproblems auf der Tagesordnung. Zuvor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl eine Entscheidung über die Abschaffung der Notaufnahmeverfahren für DDR-Bürger angekündigt. Die Bundesregierung war hier unter Druck geraten, seit der Bundesrat den sofortigen Stopp der Notaufnahme von Übersiedlern aus der DDR verlangt hatte.
Ob es aber zu einer „Mauer aus Paragraphen“ kommen wird, ist bisher noch ungewiß. Zum einen, so verlautete aus Bonn, könnte der Termin für die Abschaffung noch offen gelassen werden; andererseits würde sich auf Grund der besonderen Rechtslage Westberlins ein gesetzlich geregelter Aufnahmestopp erst einige Wochen später als im Bundesgebiet realisieren müssen. Somit würde, während dieser Zeit, der Westteil der Stadt zum Anlaufpunkt aller DDR-übersiedler werden.
O.K.
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