Die unheimliche Weisheit des Volkes

■ Vorletzte Wahlnachbetrachtung

Ich verstehe meine linken Freunde nicht. Gleich nach der ersten Trendrechnung, Sonntag, gegen 19 Uhr, griffen sie zusammengebrochen nach den harten Getränken, den Chemiebüchern, um irgendwelche Cocktails zu brauen, und schüttelten unaufhörlich ihre Köpfe, daß mir schwindlig werden mußte. Ein Stöhnen setzte ein, ein Jammern und Fluchen aufs blöde Wahlvolk. Besonders die alte Sachsenfeindlichkeit keimte grimmig auf. Endzeitstimmung um mich her, und auf der weiten Welt droht einigen verschlafenen, exotischen Gegenden eine Invasion gefrusteter DDRler beiderlei Geschlechts. Wie gesagt, ich verstehe meine ansonsten relativ intelligenten Freunde nicht und als ich meine Freude über das rundum gelungene Wahlergebnis offen zugab, hatte ich Probleme, sie an unser gemeinsames Motto der ersten Tage zu erinnern: Keine Gewalt.

Ich ging bald, teils, weil alle demonstrativ von mir abrückten, teils, weil niemand meinen logischen Argumenten folgen wollte. Ich feierte in der Kneipe an der Ecke mit pfiffigen Arbeitern den gelungenen Coup. Dabei ist es doch so einfach, die Motivation der Wählermehrheit zu erkennen. Ich habe extra einige Tage mit der Veröffentlichung gewartet, damit meine intellektuellen Freunde halbwegs ausgenüchtert den klaren Intentionen des einfachen Volkes zu folgen in der Lage sein werden.

Erinnert euch, am Anfang gab es die wohlüberlegte Prognose, daß die SPD die absolute Mehrheit erringen würde. Diese, durch nichts zu begründende Behauptung veranlaßte genügend Bürger, der Allianz ihre Stimme zu geben. Eine taktische Meisterleistung.

Den Konservativen ist mit Unterstützung der ahnungslosen Liberalen die Regierungsunschicklichkeit der kommenden Monate aufgebürdet worden, ohne daß die SPD mit in den halsbrecherischen Pakt integriert werden muß. Sie waren schwach genug, sich nicht beteiligen zu müssen, was künftig ihre Stärke ausmachen wird.

Nun wird also die DDR nach bundesrepublikanischem Vorbild regiert. Keine Frage, da floriert die Wirtschaft hemmungslos, wir alle bekommen bald D-Mark in die Tasche. So gestärkt an Leib und Hülle werden wir selbstbewußt der neuen Regierung inner- wie außerparlamentarisch hart zusetzen, denn daß sie die sozialen Fragen zu lösen imstande sein wird, liegt ja bekannterweise außerhalb konservativer Kompetenz. Das weiß natürlich auch unser schlaues Wahlvolk, das die Allianz jubelnd ins offene Messer ihrer eigenen Politik geschickt geschickt hat. Alles, was links der Mitte in der Opposition sitzt, macht sich dabei die Finger nicht schmutzig und wird sauber und gestärkt schon bald Verantwortung für unser Land übernehmen müssen (6. Mai, vorgezogene Neuwahlen...).

Bis dahin floriert die Wirtschaft, die Menschen können bleiben und sich ihrer sozialen Bedingungen annehmen... Die Konservativen werden in den Schoß ihrer Mutterpartei zurückgetrieben, in deren Land unter dem überwältigenden Eindruck der DDR-Demokratie im Dezember die SPD an die Regierung kommt.

Wir Berliner sollten den Sachsen, Thüringern und Bauernschlauen danken, die weitsichtig genug waren, am 18. März dem ängstlichen Geschnatter meiner Freunde nicht auf den Leim gegangen zu sein. „Aber dann ist doch alles zu spät“, höre ich meine verkaterten Freunde bei meinen Zukunfsvisionen unken. Mitnichten, liebe Freunde, denn Volkes unabgesprochenes Votum sorgte ja auch dafür, daß die konservative Übergangsregierung ohne Zweidrittelmehrheit keine verfassungsrechtlichen Eskapaden einleiten kann. Grandios, nicht wahr, und alle sind drauf reingefallen, im Ausland, im Nachbarland, in der Nachbarschaft. Es lebe das Volk, die Arbeiterklasse, die sich als demokratieverständlichste Vorhut ihren alten Stellenwert in der Gesellschaft zurückeroberte.

Denn eines ist doch klar - eine SPD-geführte DDR-Regierung wäre wirtschaftspolitisch an ihrer Zögerlichkeit gescheitert, auf soziale Absicherung weitgehend zu verzichten, was der Allianz wohl kaum großes Kopfzerbrechen bereiten dürfte. Dadurch galoppiert jetzt das Kapital ins Land, das wir später nur zu bändigen brauchen. Der Gesetzesvorlauf der Modrow-Mannen verhindert eine wirkliche Etablierung zügelloser Marktwirtschaft. Dank Hans und dank des Runden Tisches, der sich schon mal bereithalten soll für künftige Arbeit. Bis später.

Uwe Meyer