Sind die USA noch „bedroht“?

US-Administration uneinig über Rüstungspolitik / Militärs müssen ihre Notwendigkeit neu beweisen  ■  Von Marion Fischer

Die Spatzen in Heidelberg pfeifen es von den Dächern: Mindestens jeder fünfte amerikanische Soldat wird bald seine Stellung am Rhein, Neckar oder an der Donau räumen. Die Gründe für die ins Gespräch gekommene Reduzierung der US -Streitkräfte sind vielfältig. Sie ergeben sich aus Veränderungen des gegenseitigen Bedrohungsniveaus zwischen NATO und Warschauer Vertrag und aus den Wiener Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen in Europa. Im militärischen Bereich spielen dabei auch modifizierte Planungsansätze des Pentagon, wie z. B. der stärkere Ausbau des „Flottenbeins“ der nuklearstrategischen Triade im Rüstungsarsenal der USA zuungunsten landgestützter nuklearer Mittel- und Kurzstreckenwaffen (Reaktion auf den bisherigen Verlauf der Rüstungskontrollverhandlungen mit der UdSSR) eine Rolle. In der NATO wird verständlicherweise an Anpassungsmodellen an die sich rapid verändernde politisch-militärische und damit auch militärstrategische Situation auf dem Kontinent gearbeitet. Das berührt natürlich die Rüstungs- und Mannschaftsstärkenplanung des NATO-Giganten USA unmittelbar.

Schließlich spielen auch innere Entwicklungstendenzen der USA und ihrer Stellung in der Weltwirtschaft bei der Bestimmung von Größe und Struktur des US-Militärs in Übersee eine immer größere Rolle. Seit Jahren wird im Kongreß anläßlich der Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt darum eine Debatte geführt. Neben ständig drückender werdenden Sorgen, wie der ungezügelten Zunahme des US -Haushaltsdefizits begegnet werden kann, treten seit einiger Zeit auch die Notwendigkeit einer Konjunktur für die US -Zivilindustrie und Fragen der Absicherung des zivilen Forschungsvorlaufs in den Vordergrund. Gerade die Vernachlässigung des Zivilsektors während der Jahre des ungezügelten Hochrüstens unter Reagan führten für die US -Wirtschaft zu länger wirksamen Wettbewerbsnachteilen auf dem Weltmarkt, vor allem gegenüber Japan und Westeuorpa.

In die Debatte über den Rüstungshaushalt spielen auch neue Ansätze in der Strukturplanung und Verteilung der Überseekontingente des US-Militärs hinein. Dabei setzt sich längerfristig eine stärkere Orientierung auf die Präsenz im Pazifik und Indik durch, was ebenfalls teilweise zu Lasten der Europa- und Atlantikkontingente geht.

Seit Abschluß des INF-Vertrages und der Profilierung der neuen Außenpolitik der UdSSR gegenüber den USA und ihren Verbündeten nimmt auch der öffentliche Druck auf den Kongreß zu, doch nun endlich dem Volk etwas von der „Friedensdividende“ aus den Abrüstungsabkommen für dringend nötige Sozialprogramme zukommen zu lassen.

Die Damen und Herren Senatoren und Abgeordneten sitzen bei der Entscheidung über diese Frage zwischen zwei Stühlen: Dem „Porkbarrel-Stuhl“ (also dem großen, stabilen aus den Spendengeldern der Rüstungsindustrie des eigenen Wahlkreises) und dem mageren Stuhl der Popularität friedens und abrüstungsbewegter WählerInnen. In Kongreßanhörungen und durch Expertenanalysen werden die Abgeordneten natürlich umfassend über die aktuelle Bedrohungslage und die militärischen sowie personellen Bedürfnisse des Pentagon informiert. Auch die Autoren bzw. Auftraggeber dieser Einschätzungen stehen zum Teil im rauhen Wind der Pork -barrel-politics. So ist es wenig verwunderlich, daß sich die Mehrheit der Kongreßabgeordneten und Senatoren Jahr für Jahr doch auf den breiteren Stuhl setzt. Das in den letzten beiden Jahren erfolgte Einfrieren der Wachstumsraten des US -Rüstungsbudgets entspricht nach vielfältigen Experteneinschätzungen keineswegs dem wirklich zu rechtfertigenden Tempo der Reduzierung der Rüstungsausgaben. Da die Schere bei den Budgetkürzungen aufgrund der Wahlkreisbindung der Abgeordneten im Zweifelsfall eher die einheimiche Rüstungsindustrie als die Überseekontingente verschont, sitzt Johnny-Sixpack am Rhein auf gepackten Koffern.

In den Spitzen der Bush-Administration widerspiegeln sich die immer vielfältiger werdenden Gründe für die Reduzierung des Rüstungshaushalts derzeit u.a. im Streit um die Bedrohungslage. In seinem Bericht zum nächsten Rüstungsbudget hatte Verteidigungsminister Cheney dem Kongreß im Januar höhere Rüstungsausgaben mit der Begründung abverlangt, daß sich die militärische Bedrohung durch die UdSSR schlagartig wieder erhöhen könnte, wenn sich Gorbatschow nicht an der Macht hält. Eine kurz danach von den Vereinigten Stabschefs (JCS) erstellte Analyse, die noch unter Verschluß ist, soll an diesen Aussagen festhalten, spiele jedoch die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenariums herab und bescheinige der SU-Regierung, sie habe die militärische Aufrüstung ihrerseits gestoppt.

Im Widerspruch zu Cheneys Einschätzung stehen jedoch Äußerungen von CIA-Direktor Webster (Kongreßanhörung am 1.3. 90), daß die Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen sowjetischen Dominanz über Osteuropa, sollte Gorbatschow durch Hardliners entmachtet werden, sehr gering ist. Auch Phillip A. Peterson vom politischen Planungsstab des Pentagon äußerte sich dieser Tage ähnlich und berief sich darauf, daß die UdSSR zu großen wirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt ist, als daß sie in der Lage wäre, einen militärischen Aufschwung zu generieren. Peterson schätzte in diesem Zusammenhang auch ein, daß der Warschauer Vertrag nicht mehr „als integriertes militärisches Kommando“, also als effektive Militärorganisation existiere und nur noch für eine Weile als „politische Fiktion“ aufrechterhalten werden könne. Nach seinem Verständnis setze die Mannschaft um Gorbatschow auch nicht mehr in erster Linie auf die militärische Karte, sondern widme sich vorrangig dem Aufbau ökonomischer Beziehungen.

In gleiche Richtung gehen neuere Überlegungen der Vereinigten Stabschefs, über die der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses des Repräsentantenhauses Les Aspin am 13. März berichtete. Dort nehme man an, daß die Armeen des Warschauer Vertrages im Fall eines Angriffs der SU auf NATO-Territorium nicht mit der Sowjetarmee zusammengehen würden. Im Pentagon werde dementsprechend jetzt eine Überprüfung der Richtwerte für die Vorwarnzeit (bisher 14 Tage) vor einem Generalangriff des Warschauer Vertrages vorgenommen. Außerdem sei man zu der Einschätzung gekommen, daß nach Inkrafttreten eines Wiener Abkommens zur Reduzierung der konventionellen Kräfte das konventionelle Potential der NATO relativ zu dem des Warschauer Vertrages derart aufgewertet würde, daß es möglich wird, Westeuropa ohne Nuklearwaffen zu verteidigen. Deren Präsenz sei unter diesen Voraussetzungen nur noch zur Abschreckung im Rahmen der nach wie vor gültigen NATO-Stretegie der felxiblen Reaktion erforderlich. Dieses Nach-Wien-Szenarium erfordert nach Aspins Auffassung jedoch eine fortdauernde Modernisierung der konventionellen Streitkräfte.

Werden sich solche Anregungen und Überlegungen in Kürzungen des US-Rüstungsbudgets niederschlagen? Welche Kongreßabgeordneten werden einen Sitzversuch auf dem schmaleren Stuhl wagen? Zumindest können Überlegungen, wie die von Aspin zitierten, Bewegung in die Verhandlungen über nukleare Abrüstung bringen. Gerade der europäische Rüstungskontrollbereich hat konstruktive Impulse aus den USA nötig, damit er nicht permanent hinter den politischen und sozialen Veränderungen auf unserem Kontinent einher hinkt. Die neuen EuropäerInnen brauchen für ihren Weg in die unerprobte Zukunft dringend das Polster größerer militärischer Stabilität.

Marion Fischer