East Side Gallery

■ Die bisher längste Open-air-Gallery soll es werden / 1,3 Kilometer lang / Origineller Blickfang in einem sonst so grauen Berliner Stadtgebiet / 120 Künstler aus aller Welt malen bis Sommer '90 / Wo? Auf die Mauer...

Sie ist noch lange nicht out, die Mauer-Malerei. Nur etwas verdrängt von jüngsten Ereignissen hierzulande. Mauer-Maler sind Optimisten. Sie malen, obwohl sie wissen, daß die Mauer -Spechte gewiß kommen werden, um das einst für 100 Jahre gebaute „Bollwerk“ respektlos in winzige Partikel zu zerlegen. Mauer-Maler sind sozusagen Beton-Veredler. Mit ihrer Hilfe werden die Brocken des Monsters attraktiver, bevor sie in alle Welt gehen. Und wenn das keine Wiedergutmachung ist: Für verbotenes GEHEN und KOMMEN. Aber das weiß ja jeder...

Nicht alle hingegen wissen, was am Grenzübergang Oberbaumbrücke Richtung Hauptbahnhof entsteht: die längste Open-air-Gallery der Welt, mit internationalem Künstleraufgebot, von denen meist selbst finanziert. Den Rest sponsort westliche Werbung, sichtbar zwischen den Bildern. Damit kann man leben, hier heiligt der Zweck die Mittel.

Bevor aber einer der MalerInnen überhaupt zu Pinsel und Farbtopf greifen kann, stehen Fingerspiele an: Denn an der Mauer kleben hartnäckig die Rudimente unserer Wahlzerissenheit. Und der Kleber zwischen Beton und Papier hat auch, was für 100 Jahre halten könnte. Dem ist nur mit Tapetenablöser aus dem Westen beizukommen. Ein Schelm, der Arges dabei denkt...

Da halt ich's doch lieber mit der Symbolik der Bilder, die rasch erfaßbar sind beim Vorbeifahren. Man kann sie mitnehmen auf Fahrt. Wie Signale, Botschaften. Denk-Bilder.

Ein Maler zeigt Flagge: Mit seinem Bild und darunterstehender Adresse. Günther Schäfer, Frankfurt (a.Main) malte „MÄRZ '90 VATERLAND“. Auf Schwarzrotgold ein Davidstern. Suggestiv, provokant. Und doch irgendwie auch ein Thora-Vorhang. Ringsum auf Weiß denkwürdige Sätze des Künstlers, zu denkwürdigen Daten: 9. November '38, Kristallnacht. Und: 9. November '89, Mauerfall. Assoziationen werden ausgelöst: Hitlerfaschismus, Holocaust, Krieg, Teilung Deutschlands, Mauerbau... Deutsche Vergangenheit.

Und nun? Bevorstehende Einheit. Mit neuen Nazis in West und Ost? Nicht der sechszackige Stern ist das Menetekel seines Bildes, sondern Denken, Fühlen, Tun der Deutschen, für die diese Farben stehen: Schwarzrotgold. Lernen, aus der Geschichte...

Ingeborg Ruthe