Totalitarismus & Sozialismus

■ Nie wieder Sozialismus? / Keine Experimente / Wohlstand für alle / Der Stalin in uns

Nur schwerlich läßt sich etwas gegen den Wunsch sagen, besser leben zu wollen, und eine Rückkehr in die DDR -Verhältnisse vor dem November 1989 ist ebensowenig wünschenswert. Aber warum denn nie wieder Sozialismus? Freilich, wenn jetzt seitens der Kommunisten beansprucht wird, daß die Entwicklungen in Osteuropa eine Niederlage des Stalinismus, nicht aber des Sozialismus darstellen, dann trägt das auch wenig zur Lösung dieser Frage bei. Denn seit dem Auftreten Chrustschows gegen Stalin auf dem 20. Parteitag der KPdSU steckt die kommunistische Bewegung in einem Dilemma: eine Unterscheidung von Stalinismus und Sozialismus bedürfte nämlich eines Verständnisses vom Sozialismus, das erst im Resultat einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus erreichbar wäre.

Um eine solche Auseinandersetzung zu ermöglichen, müßte der Sozialismus (zumindest gedanklich) zur Disposition gestellt werden. Das ist wiederum politisch kaum machbar, wenn man sich einem politischen Gegner gegenübersieht, der den Sozialismus überhaupt beseitigt sehen will.

Problemloser ist es, den Sozialismus überhaupt abzulehnen, eine „klare Alternative“ und „Rückkehr in die Zukunft“ zu proklamieren. Mit Erfolg, wie der 18. März zeigte. Wird jedoch über vordergründige Wahlerfolge hinaus nach wirklich politischen Orientierungen gesucht, stellen sich dieselben Fragen auf neue Weise wieder: Worauf will sich die „Allianz“ beziehen, wenn sie in Zukunft keinen Sozialismus mehr will? Eine Ablehnung aller Seiten der „sozialistischen Wirklichkeit“ in der DDR dürfte kaum möglich sein, soll es wirklich um mehr Freiheit und Selbstbestimmung gehen. Was war also in den Augen der „Allianz“ das spezifisch Sozialistische in der DDR?

Eine Orientierung auf das, was in der Vergangenheit als typisch sozialistisch proklamiert wurde, ist wenig hilfreich. Die Geschichte des realen Sozialismus verdeutlicht, daß solcherart Benennungen nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun haben mußten.

Schon auf dem 14. Parteitag der KPdSU im Dezember 1925 stritten sich Grigorij Sinowjew und Nikolai Bucharin darüber, ob die entstandene sowjetische Gesellschaft schon als sozialistische bezeichnet werden könne oder nicht. Gegen Sinowjew, für den die Sowjetunion erst auf dem Wege zur sozialistischen Gesellschaft war, setzte sich Bucharin (auch mit Hilfe von Stalin) durch. Interessant ist dabei, wie Bucharin seine Position begründete. Angesichts der „großen Erziehungsaufgabe der Partei“ mußte für ihn die sowjetische Gesellschaft als sozialistische bezeichnet werden, denn diese Aufgabe - so Bucharin - sei nur schwerlich zu erfüllen, wenn man den Arbeitern erklären müßte, daß sie keinen Sozialismus, sondern Staatskapitalismus bauen.

Somit lag es für Bucharin in der Logik der Sache, daß es im Grunde egal war, ob die sowjetische Gesellschaft wirklich schon sozialistische Züge entwickelt hatte. Um der Durchsetzung der führenden Rolle der Partei willen war es für ihn unabdingbar, die entstandenen Verhältnisse als sozialistische zu bezeichnen.

Dieser Logik der Sache entsprach auch der Aufruf Stalins zur „Offensive des Sozialismus an allen Fronten“ anläßlich des 12. Jahrestages der Oktoberrevolution 1929. Ein wesentliches Instrument der Parteiführung in dieser „Offensive“ war dabei die systematische Errichtung einer sozialistischen Fassade, wodurch die

Massen bei der Erfüllung der Volkswirtschaftspläne mobilisiert werden sollten. So wurde die Sowjetordnung 1935 als die demokratischste und freieste Ordnung proklamiert; stellte Stalin in seinem Bericht auf dem außerordentlichen 8. Sowjetkongreß der UdSSR am 25. November 1936 fest, daß in der Sowjetunion die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, im wesentlichen verwirklicht sei.

Und es war sicherlich auch in der Logik der politischen Mittel der SED begründet, wenn - nach J. Herrmann Erfolgspropaganda Gesetz war und Egon Krenz die politische Nachfolge Honeckers antrat mit der Formel: „Der Sozialismus in der DDR steht nicht zur Disposition.“

Mithin, wenn die Bezeichnungen der Wirklichkeit im realen Sozialismus vor allem mobilisierende und propagandistische Funktion hatten, wie und womit kann dann bezeichnet werden, was überwunden werden soll. Haben nun etwa doch die Politiker und Politologen recht, die in bezug auf die Geschichte der DDR von einer „totalitären Gesellschaft“, von einer „Unrechtsordnung“ sprechen?

Auch solche Etikettierungen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal von seiten der bürgerlichen Sowjetologie schon seit langem Zweifel am Erklärungswert des Totalitarismus-Begriffs in bezug auf die sozialistische Gesellschaft geäußert werden. Dieser war Produkt einer Vergleichsanalyse der Staatswesen des faschistischen Italiens, des nationalsozialistischen Deutschlands und der Stalinschen Sowjetunion, um grundlegende Merkmale totalitärer Diktaturen herauszuarbeiten. Die Zuordnung dieser Gesellschaften zu einem Typus von gesellschaftlicher Organisation war nicht das Resultat einer inneren Analyse und eines darauf aufbauenden Vergleichs, sondern es wurde einfach vorausgesetzt, daß sie im Grunde gleichartig waren. Dieses Herangehen der Totalitarismus-Forschung kritisierte z. B. H. J. Lieber Anfang der 60er Jahre, indem er fragte, ob nicht die für den Totalitarismus-Begriff charakteristische Subsumtion des bolschewistischen Kommunismus und des Nationalsozialismus „unter einen typologischen Begriff gerade das Spezifische jedes Phänomens in seinem historischen Ursprung und in seiner geschichtlich gesellschaftlichen Entfaltung verloren geht zugunsten eines Verharrens bei äußeren und relativ formalen Analogien in Herrschaftsaufbau und Herrschaftstechnik.“ In den sechziger Jahren wurde von verschiedener Seite gefordert, endlich zu einer immanenten Analyse der sozialistischen Gesellschaft überzugehen und die vom Totalitarismus-Begriff geprägte Sicht zu überwinden. Noch 1975 bemerkte der bekannte ame

rikanische Sowjetologe Stephen F. Cohen, daß der Totalitarismus-Begriff die Sicht auf den Stalinismus als Phänomen mit einer eigenständigen Dynamik und Geschichte verbaut.

Trotzdem hörte man in den letzten Jahren wieder verstärkt die Kategorien des Totalitarismus-Konzepts, wenn von bürgerlicher Seite (besonders über die elektronischen Medien) aus den sozialistischen Ländern berichtet, die politischen Entwicklungen kommentiert wurden. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe.

Erstens stellt die Einsicht in das Fehlen einer wirklich immanenten Analyse der sozialistischen Gesellschaft von seiten der bürgerlichen Sowjetologie einen Endpunkt einer gedanklichen Entwicklung dar, die mit dem Entspannungsprozeß verknüpft war. Die Realisierung einer solchen Analyse war deshalb nicht möglich, weil sie der gesellschaftlichen Bedürfnislage nicht entsprach. Denn eine vom Selbstverständnis des Sozialismus ausgehende Analyse verlangt eine Gesellschaft, die selbst auf Selbstverständigung angelegt ist. Und das ist die bürgerliche Gesellschaft (und die bundesdeutsche besonders) eben nicht.

Zweitens mußte die konservative Wende in der Politik führender westlicher Staaten, der Reaganismus wie das Berufen der West-CDU auf Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt auch zu einer Renaissance des Sozialismus-Bildes der 50er Jahre führen.

Es gibt sicherlich eine Menge Gründe, die gegen einen schnellen Anschluß der DDR an die BRD sprechen. Einige von ihnen mögen angesichts der wirtschaftlichen Situation borniert und der Mauer-Mentalität und Beschränktheit des DDR -Bürgers geschuldet sein. Doch wenn es wirklich um Freiheit und Selbstbestimmung geht, und davon ist ja bei Bundesregierung stets die Rede, wäre eine Abbruch des gerade begonnenen Verständigungsprozesses verhängnisvoll.

Wie notwendig ein solcher Verständigungsprozeß auch in Zukunft ist, zeigt sich schon allein in der Allianz -Forderung: „Nie wieder Sozialismus!“ Denn sie ist der gleichen Weise des Herangehens, des Denkens entsprungen, das dem Stalinismus entsprach und ihn reproduzierte, das den „Stalin in uns“ ausmachte.

Typisch für dieses Denken ist, daß das Denkfeld von vornherein eingeschränkt, mögliche „Ausgänge“ verbaut werden, indem abstrakte Schlußfolgerungen fetischisiert, politische Konsequenzen transformiert und damit schon das Denken einer Entwicklungsvariante suspekt erscheint. Im harten und weichen Stalinismus dienten dazu solche Begriffe wie Trotzkismus, Titoismus, um das Denken

der Parteimitglieder und der Theoretiker zu disziplinieren. Es sollte geforscht, diskutiert, kritisiert werden können, nur eines durfte nicht befragt werden: der sozialistische Charakter der Gesellschaft.

Nun soll wieder „diszipliniert“ werden: „Nie wieder Sozialismus!“ Was ja, angesichts der Ausgangssituation in der DDR, der Vorstellungen, Ideen und des Selbstbewußtseins, welche vorausgesetzt werden können, mit einem Verzicht auf eigenes Nachdenken, auf einen Selbstverständigungsprozeß am besten zu erreichen wäre.

Michael Wendt