Heinz Rudolf Kunze im Spagat zwischen Kunst und Kommerz

■ Neue Scheibe von H. R. K. heißt „Gute Unterhaltung“ / Kunze '90 sieht nach Höhensonne aus, komischerweise klingt er auch so / „Bittere-Pille-in-Zuckerwatte“ - Konzept geht anscheinend auf

„Gute Unterhaltung“ heißt das jüngste Plattenprodukt aus dem hierzulande hauptsächlich durch eine ganze Reihe von vorzüglichen Live-Acts in grauer Vor-Wende-Zeit bekannten Hause Kunze. Und wegen dieser neuen, seiner nunmehr bereits zehnten Langspielplatte, grinst Heinz Rudolf Kunze augenblicklich allenthalber freundlich von übergroßen, überaus bunten Postern in den urplötzlich so naheliegenden Phonoläden der Welt westlich von Wittenberge. Getarnt als biederer Herr im schlichten schwarzen Zweireiher.

Er hat sich Texasstiefel mit Stahlkappen zugelegt, trägt ein schwarzes Zigarillo im Mundwinkel und holt scheinbar mit der Gitarre zum Schlag aus. Zum großen Schlag?

Jedenfalls wurden alle elf Titel der LP im Zeitraum von März bis August des vergangenen Jahres im Hannoveraner Madagaskar-Studio aufgenommen und von Kunzes Gitarristen Heiner Lürig produziert. Die Bläser ließ der Meister in London einspielen, das Orchester der Vereinigten Bühnen Wien wurde engagiert, selbst einen Kammerchor leistet sich der Ex -Liedermacher und promovierte Germanist.

Der Erfolg? Gute Unterhaltung! Denn der blasse Kopfmensch mit der häßlichen Hornbrille, als der Kunze 1981 zaghaft zum Sturm auf die hinteren Hitparadenränge antrat, ist er nicht mehr. Kunze '90 sieht nach Höhensonne aus, nach Solarium und Miami Beach. Komischerweise klingt er auch so.

Wüßte man nicht, wie alles begann, man wüßte nicht ein noch aus. Ist das nun noch kritisch? Oder schon ganz Kalkül? Beides? Kunze im Spagat zwischen Kunst und Kommerz? So ähnlich, und die Fans werden es mit Sorgenfalten auf der Stirn und im Takt wippendem Fuß bemerken.

Denn eines kann schon mal als sicher gelten: Seit „Reine Nervensache“ - Kunzes erste, von der Kritik vielbeachtete und völlig unverkäufliche LP - ihre Karriere in irgendeinem PVC-Granulator beendete, hat Kunze gegen das (Vor-)Urteil der kommerziellen Untauglichkeit längst erfolgreich Berufung eingelegt.

Bei seinem Lieblingsschriftsteller Peter Handke fand er, was Marx seinerzeit nur etwas anders formulierte: Alles Gelungene ist eine Form von Gewalt. Kunze zog seine Schlüsse. Er beschloß, nicht in Schönheit zu sterben und keinesfalls unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

Zu seinen stets schon einfallsreichen und zuzeiten von Wortwitz tropfenden Texten kamen mit dem Einstieg von Heiner Lürig im Jahr '85 mehr und mehr auch clevere, marktorientierte Musiken, durchkomponierte, griffige Pop -Hits wie „Dein ist mein ganzes Herz“, „Mit Leib und Seele“ oder „Finden Sie Mabel“.

Sie brachten den im niedersächsischen Hannover lebenden Rockpoeten Stammplätze in den Hitparaden, ausverkaufte Konzerttourneen in Ost und West, beachtliche Verkaufszahlen für die nach wie vor überdruchschnittlich ambitionierten LPs.

Ja, Kunzes „Bittere-Pille-in-Zuckerwatte„-Konzept, allem Anschein nach geht es auf. Zumal Kunze, der frühere Kaumsänger, inzwischen unüberhörbar Stimmbänder entdeckt hat im eigenen Hals. Er artikuliert sich nicht mehr mit der Bitterkeit des Underdogs, wälzt nicht mehr Weltschmerz am wimmernden Klavier, verteilt nicht mehr schmerzhaft gereimte Sprechtexte. Das ihm von seiner Plattenfirma zu Karrierebeginn wohlmeinend vorausgesandte Markenzeichen „Niedermacher für die 80er Jahre“ liegt de facto bei den Akten, der heimliche Rocker und Menschenfreund macht seine Liebe heute öffentlich.

Nicht erst seit der vorjährigen Rockpoeten-Tour durch die DDR und seiner aktuellen „Gute Unterhaltung„-Tournee ist klar: Der Intellektuelle des deutschen Rock wirft das Tanzbein. Jetzt spielen nicht mehr die anderen ohne ihn, nein, jetzt spielt er ohne die anderen. Rock‘ n‘ Roll, den Traum aller Jungs.

„Amerika hat noch keiner entdeckt“, bemerkt der Dichter verdutzt, „es ist nicht von dieser Welt. Das, was ihr Götter Amerika nennt, ist bloß ein Indien mit Geld...“ Und er selbst? Ein „Akrobat“, ein „müder Vampir, der sich Schminke abschleift“. Der Griff nach den Sternen ein Griff nach Trapezen und Stricken. Doch „die Abfahrkarten, bitte“ begehrt der Zweiunddreißigjährige zu sehen, denn gute Unterhaltung ist mindestens der Mittelpunkt der Welt. Es wird getanzt auf dem Vulkan, gerockt im Saal und auf der Bühne.

Ein hämischer Unterton ist nicht zu überhören, im Titelstück der Platte nicht und anderswo, verfremdet und gebrochen jedoch immer von poetischen Blattschüssen wie „Größer als wir beide“ oder dem beinahe unsäglichen Saftstück „Ich habs versucht“.

Ganz im Gegensatz zu früher und noch unlängst verkündeten Absichten gibt der Lehrdienstverweigerer Kunze heute nun doch Parolen aus - oder wenigstens die eine: „Heul mit den Wölfen ...“, empfiehlt er, “... mach endlich ohne Handbremse mit ...“. Ein bitterer Apell, zugegeben, von dem der Künstler selber hoffen mag, daß er ungehört verhallt.

Am ehesten an den alten, den Liedermacher HRK erinnert noch das „Männergebet“, ein drastisch formuliertes Stück Weltflucht nach Randy Newman. Sicherlich, die „Gute Unterhaltung“ ist so gesehen ein Kompromiß zwischen Kunzes zweifellos nach wie vor bestehenden Ansprüchen, mehr als seichte Schlagerchen zu produzieren, und dem im Pop-Geschäft nötigen weitreichenden Konzessionen an Massengeschmack und Medienerfordernissen. Doch gute Unterhaltung ist wohl noch stets solch ein Kompromiß gewesen. Und wenn es sich, wie in diesem Fall, um Unterhaltung mit Hintersinn handelt, professionell gerockt von Leuten, die hörbar miteinander können, phantastisch aufeinander eingespielt sind, die Ideen haben im Kopf und das Selbstbewußtsein des Erfolges im Rücken - dann kann man sich vielmehr gar nichts wünschen als: Gute Unterhaltung.

St. Könau