Kopf, Herz oder Bauch ?

Offene Worte an fünfeinhalb Millionen Bürger der DDR  ■ G A S T K O M M E N T A R

Überschaut man die Zeit vom Oktober 1989 bis heute, so gibt sie für jeden einigermaßen politisch Interessierten einen historischen Anschauungsunterricht von besonderer Bedeutung. Die ersten stimmten noch mit den Füßen ab. Sie waren die Vorboten oder Auslöser der „friedlichen Revolution“ hier in der DDR. Dann kam der Kampfruf „Wir bleiben hier - wir sind das Volk“. Jetzt aber, bei dieser ersten Wahl wurde mit dem Bauch abgestimmt. Bananen, Tomaten, Kiwis etc., aber auch technische Geräte der verschiedensten Art bestimmten das Kreuz im Wahlzettel.

Ist es erstaunlich, daß die Leute dem Lügenkanzler folgten, der noch vor Wochen in Dresden und anderen Großstädten der DDR vom sofortigen Anschluß orakelte, nun aber, mit der Wirklichkeit konfrontiert, erst das Jahr 1992 als möglichen Zeitraum einer Vereinigung nennt?

So frech wurde wohl selten gelogen und die Menschen für dumm verkauft. Darum ist auch die Enttäuschung der vielen anderen, noch suchenden und aus der Geschichte lernenden, Bürger nicht so groß, wie ursprünglich angenommen wurde. Was sie aber betroffen macht, ist die leider nicht zu leugnenede Tatsache, daß es in der DDR ein politisches Nord-Süd-Gefälle gibt, dergestalt, daß man glauben könnte, die Enkel und Urenkel von Lassalle, Bebel und Liebknecht in Sachsen und Thüringen wären heute in ihren Metzger verliebt. Es ist nur zu hoffen, daß sich dies bald ändern wird.

Wie oft schon in der langen Geschichte der Menschheit sind aus irrenden Saulussen suchende Paulusse geworden? Ihr Herren des Geldes und der Produktionsmittel da drüben im Westen, dreht das Ergebnis dieser Wahlen so frech und so viel Ihr wollt. Am Ende geht die Geschichte doch ihren eigenen Gang, und die Euch heute noch laut bejubeln, werden morgen schon die Hände ringen und rufen: „Das haben wir nicht gewollt!“ Sie werden dann begriffen haben, daß sie „Wanderer in ein Nichts“ waren und erneut von der Geschichte überholt wurden. Deutsche Einheit, früher oder später, uns wird damit auf jeden Fall ein neues Kampffeld gegeben. Die Linken in Deutschland, ob Rot, Grün oder mit dem Christenkreuz, die werden dann die Zukunft bestimmen. Kein deutsches Europa, sondern ein Europa mit Deutschland inmitten, ist noch immer das Gebot der Stunde.

Der diese Zeilen schreibt, ist ein alter Mann. Vieles Gute hat er in langen Jahren gesehen und erlebt, aber auch große Enttäuschungen und Rückschläge haben seinen Weg gekreuzt und bestimmt. Eines aber hat sich fest in ihm eingeprägt: Nur das Leben selbst kann unser Lehrmeister sein. Darum hütet Euch, seid wachsam und entscheidet immer nur mit Herz und Verstand.

Werner Thalheim, 83 Jahre, sieben Jahre in französischer Emigration, fünf Jahre KZ Dachau