Geheimdokument zur Superwirtschaftszone

Unter Umgehung der Euro-Parlamentarier hat die EG-Kommission mit EFTA-Vertretern ein europäisches Entscheidungssystem ausgehandelt, das den Zusammenschluß von EG und EFTA koordinieren soll / Auch ein gemeinsamer Gerichtshof ist vorgesehen  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

„Da werden die Schweizer im Dreieck springen“ - Tony Robinson ist empört. Denn was noch vor kurzem als Witz in Brüssel kursierte, könnte sich bald bewahrheiten, zumindest wenn es nach dem Willen der EG-Kommission geht.

Nicht mehr unter freiem Himmel werden die Eidgenossen dann ihre Volksabstimmungen abhalten, sondern in einem europäischen Superparlament. Für den britischen Labour -Abgeordneten im Europaparlament steht es fest: „Unter Mißachtung der vom Europaparlament erteilten Befugnisse haben Beamte der Kommission, wie die EG-Verwaltung genannt wird, zusammen mit Vertretern der EFTA-Länder (Norwegen, Schweden, Finnland, Island, Österreich und die Schweiz) ein neues System von europäischen Entscheidungsgremien ausgehandelt.“ Ein gemeinsamer Gerichtshof ist anvisiert und kombinierte Entscheidungsinstanzen auf Minister- und Beamtenebene, um die Zusammenarbeit der beiden westeuropäischen Wirtschaftszusammenschlüsse zu koordinieren. Sogar ein neues erweitertes Euro-Parlament hält Tony Robinson auf Grund eines geheimen EG/EFTA -Dokuments für möglich, dessen Bekanntwerden Ende letzter Woche zu Protestgeschrei im Brüsseler Parlament führte.

Der Skandal brach nach einem Treffen von hohen Beamten der EG-Kommission und EFTA-Vertretern in Brüssel aus, die im Auftrag der 18 zuständigen Außenminister die Schaffung eines „Europäischen Wirtschaftsraumes“ (EWR) vorbereiten. Schon heute ist das Handelsvolumen der EG mit den Ländern der Europäischen Freihandelszone mit Anhängsel Liechtenstein größer als das der EG mit Japan und den USA zusammengenommen. Bislang haben die neutralen EFTA-Länder aber nur das Privileg, ihre Industriegüter frei auf den EG -Märkten verkaufen zu können. In Zukunft sollen sie auch an den anderen drei „Freiheiten“ der EG teilnehmen können. Zeitgleich mit der Schaffung des gemeinsamen Marktes Ende 1992 soll EG- und EFTA-weit nicht nur der freie Austausch von Waren, sondern auch die ungehinderte Bewegung von Kapital, Personen und Diensten möglich sein. Außerdem sollen die Wettbewerbsbedingungen im Gesamtbereich EG-EFTA einander angeglichen werden. Nur die Grenzkontrollen werden vorerst bestehen bleiben. Daß dieser Hyperwirtschaftsraum mit 350 Millionen Konsumenten eines gemeinsamen Leitungsgremiums bedarf, das leuchtet auch den Europaparlamentariern ein.

Zu dem Protestgeschrei kam es in erster Linie, erklärt Robinson, weil das Parlament von den vorbereitenden Verhandlungen ausgeschlossen ist. „Wir sind schockiert, daß ohne Konsultation des Parlaments ein neues System von Entscheidungsgremien für Europa entwickelt wird. Andriessen hat seine Befugnisse als Kommissar für Auswärtiges überschritten.“ Frans Andriessen bedauerte, daß „das Dokument, das nicht die endgültige Position der Kommission wiedergibt, durch eine Indiskretion in die Hände der Parlamentarier gefallen ist“.

Doch auch ohne den Streit zwischen Kommission und Parlament ist das Papier interessant. Es trägt den Titel: „Ergebnisse des Führungsgremiums von hohen Kommissions- und EFTA -Vertretern vom 20. März 1990 in Brüssel“ und zeigt eine Trendwende in der Politik der EG gegenüber den EFTA-Staaten an. Denn seit 1984 auf einer Ministerkonferenz der EWR proklamiert wurde, hat sich die EG zum dominanten Partner innerhalb der Verlobungsgemeinschaft entwickelt. Zwar hat sich an den Rahmendaten wenig geändert - 323 Millionen EG -Konsumenten gegenüber knapp 30 Millionen EFTA-Verbrauchern. Doch das Projekt EG '92 weckte bei den EFTA-Staaten die Befürchtung, nach der Vollendung des Binnenmarkts von dem Wirtschaftsgiganten an die Wand gedrückt zu werden. Ihre Souveränität gegenüber der EG, so EFTA-Vertreter, schrumpfe zu einer Scheinautonomie.

Erlösend wirkte vor diesem Hintergrund der Vorschlag des EG -Kommissionspräsidenten Jacques Delors im Januar vor einem Jahr, eine „strukturierte Partnerschaft“ zwischen EFTA und EG zu schaffen. Bei einer Außenministerkonferenz letzten Dezember drängten die EFTA-Staaten dann auch auf einen baldigen Abschluß der Verhandlungen. Zwar haben die EFTA -Staaten sich schon bereit erklärt, den rechtlichen Besitzstand der Zwölfergemeinschaft zu übernehmen. Während aber bei der Überwachung und Auslegung der für den gesamten Wirtschaftsraum geltenden Bestimmungen relative Einigkeit herrscht, gab es bislang Streit um die zukünftigen Entscheidungsmechanismen.

Die zentrale Frage: Werden künftig die Regeln des EWR im Kreise der Achtzehn weiterentwickelt werden, oder wird der Rechtsetzungsprozeß weitgehend von der EG vorgegeben. EFTA -Päsident Jon Baldvin Hannibalsson hatte im Dezember die Gleichstellung bei EWR-Beschlüssen gefordert. Andriessen machte jedoch klar, daß dies unmöglich sei, weil es den EFTA -Staaten indirekt ein Mitspracherecht in EG-Angelegenheiten einräume: „Die Autonomie der EG ist nicht verhandelbar.“ Während die skandinavischen Länder eher bereit zu sein schienen, Beschlüsse der EG zu übernehmen, drängten die Regierungen Österreichs und der Schweiz auf ein Mitspracherecht bei den Entscheidungsprozessen in Brüssel. Dem scheint die EG-Kommission nun bei den Gesprächen letzte Woche in Brüssel nachgegeben zu haben.

Wenn allerdings das Parlament seinen Widerstand gegen die pan-europäischen Entscheidungsstrukturen aufrecht erhält, ist es um die Zukunft des EWR schlecht bestellt. Ohnehin wird auch in einigen EFTA-Ländern die bisherige Politik überdacht. Es mehren sich in den neutralen Staaten jene Stimmen, die einen direkten EG-Beitritt dem Umweg über den EWR vorziehen.

Nur den Schweizern bereitet der Sog zur Europäischen Gemeinschaft Kopfschmerzen: In der Ausländerpolitik, im Wettbewerbsrecht, in Verkehrspolitik und in Landwirtschaft sehen sie ihre eidgenössische Autonomie in Gefahr.