Sympathie und Vorsicht

■ Warschau macht die diplomatische Anerkennung Litauens von der weiteren Entwicklung abhängig

Warschau (dpa/taz) - Trotz aller Drohungen mit Reisebeschränkungen aus Moskau sind die drei Autos mit dem Vorsitzenden der Fraktion der Solidarität im polnischen Parlament, Bronislaw Geremek, und neun anderen führenden Mitgliedern des „Bürgerkomitees“ in der Nacht zum Dienstag heil in Vilnius angekommen. Der Zeitpunkt für diesen demonstrativen Besuch bei der Unabhängigkeitsbewegung Sajudis und beim Präsidenten Vytautas Landsbergis war kein Zufall. In der Umgebung Geremeks wird das nicht abgestritten. Parlamentarier könnten sich eher von Emotionen leiten lassen als die Regierung, meinte man dazu.

Vor der Abreise hatte Geremek versichert: „Wir haben die historische Erfahrung gemacht, daß man selbst die schwersten Probleme im politischen Dialog lösen kann“. Er könne sich nicht als Vermittler anbieten, sei aber sicher, daß das demokratische Litauen die Sprache des Dialogs mit der Führung der Sowjetunion finde. Ähnlich äußerten sich Lech Walesa und Premier Mazowiecki. Man müsse reden, reden und noch einmal reden, hatte Mazowiecki während seiner Reise durch die USA immer wieder auf entsprechende Fragen geantwortet. Trotz unverhohlener Sympathie für die Unabhängigkeitbestrebungen und allen Appellen von Intellektuellen macht Warschau die volle diplomatische Anerkennung Litauens von der weiteren Entwicklung abhängig.

Obwohl die Regierungselite Polens mit dem Herzen auf der Seite der Freiheitsbewegung steht, will man nichts tun, was den Reformern um den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow schaden kann. Die Unabhängigkeitserklärung habe nicht nur den Feinden Litauens, sondern den Gegnern der Änderungen in der Sowjetunion überhaupt Argumente geliefert, meinte die Solidarität-Zeitung 'Gazeta Wyborcza‘. Niemand wirft mehr das Problem der Grenze auf. Die Universität von Vilnius war eine der ältesten und berühmtesten polnischen Hochschulen. Noch heute hängt in vielen polnischen Häusern und Kirchen die „Matka Boska Ostrobramska“ - das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Spitzen Tor in Vilnius. Es wird neben der Schwarzen Modonna von Tschenstochau als polnisches Nationalheiligtum verehrt. Von Anfang an hat die neue polnische Führung immer wieder feierlich versichert, daß sie die Nachkriegsgrenzen in Europa als unantastbar betrachtet. Es bildeten sich Freundschaftskreise ehemaliger Bewohner von Vilnius oder Lemberg, doch niemand hat Zweifel daran aufkommen lassen, daß diese Gebiete für immer verloren sind. So stellt sich bei ihren freundschaftlichen Kontakten mit der Sajudis für die Abgesandten der Solidarität keine Grenzfrage, obwohl Vilnius und Umgebung zur Zeit des Hitler -Stalin-Paktes zu Polen und nicht zu Litauen gehörte.

Schwieriger ist das Problem der etwa 270.000 Menschen umfassenden polnischen Minderheit in Litauen. Litauische Nationalisten beschuldigen die Polen, sie seien Kollaboranten Moskaus. Auf der anderen Seite fühlen sich die Polen, die vor allem in der Umgebung von Vilnius wohnen, von den Litauern unterdrückt. Sie fordern unter anderem eine sprachliche und kulturelle Autonomie in den vorwiegend von Polen bewohnten Ortschaften. Außerdem müsse es mehr polnische Gottesdienste geben. Von den zehn Vertretern der polnischen Minderheit im Parlament in Vilnius stimmten am 11. März an der Seite der Sajudis vier für die Unabhängigkeit Litauens und sechs enthielten sich der Stimme.

Renate Marsch