Unabhängigkeit fordert Tribut von Blättern des früheren Presseimperiums

■ Seit Montag dreifacher Preis für ehemalige SED-Bezirkszeitungen / Bisher keine gravierenden Abo-Einbrüche / Westverlage steigen in das Geschäft ein / Politische und ökonomische Unabhängigkeit nur ein Traum

Auf leisen Sohlen fast erschienen sie am 2. April auf dem marktwirtschaftlichen Parkett. „Vom Tischlein-deck-dich zum Esel-streck-dich“ ironisierten Redakteure der Karl-Marx -Städter 'Freien Presse‘ ihren Abschied aus dem Subventionswohlsein des bisher parteieigenen Zentrag -Verbundes. Der politischen folgte damit nun auch die ökonomische Unabhängigkeit von den Pfründen der früheren SED. Einen etwa verdreifachten Preis - statt 15 Pfennig jetzt 0,40 oder 0,50 Mark - zahlen die LeserInnen für zunächst gleich dürren Umfang (in der Regel acht Seiten), verdoppelte Anzeigenräume und hier und da ein paar Farblinien im gewohnten Einheitsgrau der 14 Bezirkszeitungen.

Über 100 Millionen Mark jährlich war es den Pressegewaltigen im ehemaligen ZK wert, daß sich ihre Regionalblätter in mehr als 90 Prozent aller DDR-Haushalte breitmachten. Von etwa fünfeinhalb Millionen Tagesauflage zwischen Rostock und Suhl ist noch die Rede; als frühere „Partei-, Massen- und Heimatzeitungen“ wurden sie dank ihrer Lokalteile und Regionalinformationen immerhin zum gefragtesten Zeitungstyp im kommandierten Presseimperium.

Nun aber pfeifen ihnen die eiskalten Winde der bunt -dickleibigen Konkurrenz aus westlichen Verlagshäusern um die Ohren. Sinnigerweise rief der Computerchef der 'Freien Erde‘ (seit Montag 'Nordkurier‘) bei der Demontage der Titelbuchstaben vom Neubrandenburger Redaktionshaus: „Jetzt wird's heiß“. Zwar verzeichnen die traditionellen Regionalmatadoren noch keine katastrophalen Einbrüche bei den Abonnements - was sind ein paar Zehntausend Rückgang bei Druckauflagen von 320.000 und mehr - doch die 'Berliner Morgenpost‘ und West-'BZ‘ umkreisen zum Beispiel schon bedrohlich den Einflußbereich der 'Märkischen Volksstimme‘ im Bezirk Potsdam. In Sachsen und Thüringen erscheinen lokal profilierte Tages- und Wochenblätter aus bundesdeutschen Druckereien, offeriert von den Wahlsiegern des 18. März: 'Vogtland-Post‘, 'Sachsenkurier‘, 'Thüringen-Post‘. Das 'Meininger Tageblatt‘ (Herstellort Würzburg) etablierte sich seit Februar als Widersacher zum Suhler 'Freien Wort‘, das von seinen bislang 180.000 Abos inzwischen knapp 15 Prozent einbüßte.

Wohin also neigt sich die Lesergunst? Wie heiß wird's wirklich? Schier trostlos in dieser Lage ist die polygraphische Rückständigkeit; die langjährig vernachlässigte technische Ausstattung der Druckereien und Redaktionen fordert ihren Tribut. Um sich zu behaupten, muß Kapital her! Die Ex-Armada der SED-Presse, Mitte Januar selbstbewußt als Unabhängige in die brodelnden Wasser der politischen DDR-Szenerie gesprungen, treibt hilflos in die weitgeöffneten Arme der bundesdeutschen Medienriesen. Die allein verabreichen die dringend notwendigen Millionenspritzen, liefern die Technik, das Know-how. So liierte sich die 'Märkische Volksstimme‘ (Potsdam) mit einem Print-Unternehmen aus Oldenburg und verhandelt zeitgleich mit dem Ullstein-Verlag. Bauer hat sich bereits in der 'Schweriner Volkszeitung‘ und beim 'Nordkurier‘ eingerichtet, die 'Märkische Oderzeitung‘ - vormals 'Neuer Tag‘ (Frankfurt / Oder) scheint ebenfalls gebongt. 'Freies Wort‘ hat in Würzburg seine Partner, die 'Thüringer Allgemeine‘ (früher 'Das Volk‘!!) arrangierte sich mit der Societätsdruckerei Frankfurt(Main). Zwischen Ostsee und Erzgebirge verhökern volkseigene Verlagschefs unter dem Motto „Wir retten Arbeitsplätze!“, was sich gerade mal an Selbständigem zu bilden begann.

Test the West! Aus Furcht, in die sozialen Abwässer des ungleichen Wettbewerbs geschwemmt zu werden, verschließt man die Augen vor dem Politsog der vier Großen. Denn eins steht wohl fest: Die Geldgeber werden künftig einen Platz am Vorstandstisch beanspruchen.

Die nie geübte Unabhängigkeit journalistischer Information und Meinungsvielfalt im temporeichen Roulette der Ereignisse zwischen November und März schien für die Redaktionen ohnehin schwer beherrschbar. Rubriken und Seiten der Blätter waren unaufhörlich mit der Fußnote „Redaktion nicht zuständig“ versehen. Dem irritierten DDR-Wähler wurde ein Gestrüpp von Positionspapieren, Leserbriefen, Dementis, Gegendarstellungen, Anschuldigungen, Ehrenerklärungen zugemutet. Es lebe die Überparteilichkeit! „Unser Leser braucht keinen Vormund“, entschuldigte ein Journalist der 'Ostthüringer Nachrichten‘ (früher 'Volkswacht‘ / Gera) das politische Labyrinth seines Blattes. Der 'Neue Tag‘ gar verabschiedete sich nach 38 Jahren mit Heiner Geißlers Konterfei in der Aufmachung der Titelseite. Während die 'Sächsische Zeitung‘ (Dresden) und 'Leipziger Volkszeitung‘ noch tapfer den Kassandra-Rufen unter Schwarz-Rot-Gold trotzten, fragte die 'Thüringer Allgemeine‘ ungeniert am 13. März auf ihrer ersten Seite „Wird Thüringen erstes Bundesland?“ und zeigte, wo die 23er Harke hängt. Bei der Hallenser 'Freiheit‘ (neu: 'Mitteldeutsche Zeitung‘) wiederum hatte sich die demokratische Opposition im Spätherbst wöchentlich eine vierseitige „Reformzeitung“ im Blatt erstritten, von der aber nach den Volkskammerwahlen nunmehr nichts als die Erinnerung bleibt.

Hurtiger Szenenwechsel jetzt erneut angesichts von Kohls unerfüllten D-Mark-Versprechen. Die Zeitungen füllen sich mit sozialen Fragezeichen. Karl-Marx-Stadt: Wann der Schub der Arbeitslosen?, Cottbus: Assis mit Abi?, Halle: Rentner am Stock?. Die 14 dritten Seiten am 27. März - zwölf mal Fragesätze als Überschriften! Die Texte aber enthalten kaum entschlossene Antworten.

Taumelt man bis zum 6. Mai wieder haltlos zwischen den Wahlfronten, so würden das sicher viele der heute noch geduldigen Abonnenten als Preisgabe sozialer Interessenlagen in ihrem Regionalblatt betrachten. Wird diese Trumpfkarte jetzt nicht entschlossen gespielt, dürfen die Bezirkszeitungen ihre Favoritenstellung bei den LeserInnen kaum halten können. Bisher gingen die Abbestellungen von Tagespresse noch deutlich zu Lasten der zentralen Blätter.

Eliot Anders