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SCHRIFT ODER LEBEN

■ „Die Enzyklopädie der Toten“ von Danilo Kis im jugoslawischen Zentrum der Arbeiterwohlfahrt

Jorge Luis Borge träumte einst von einer Landkarte, so groß wie die Erde selbst. Danilo Kis, der vor kurzem verstorbene serbokroatische Schriftsteller, beschreibt in der Titelerzählung seines Erzählbandes Die Enzyklopädie der Toten eine Bibliothek, angefüllt mit Biographien, die das Leben der einzelnen Personen deutlicher, als es die Schrift vermag, wiedergeben: mit dem Geruch der Apfelbaumblüten im Frühjahr, mit dem Klang der Sensen auf dem Feld und mit dem Kanonendonner des Zweiten Weltkrieges im Hintergrund Utopie einer Schrift, die das Leben einer Person auf 3D -Filmleinwanddimension vergrößern könnte.

Die fiktive Person betritt die Bibliothek, um das Buch zu suchen, in dem das Leben ihres Vaters festgehalten ist. Als sie es schließlich aus dem Regal nimmt und aufschlägt, findet sie in der Zeitspanne zwischen 1910 und 1979 jedes Detail des väterlichen Lebens - seine Spaziergänge, die Sommerregen, die ihn zur Flucht unter das Vordach des Hauses treiben, sein Schnurrbärtchen und den Schnitt ins Kinn vermerkt. Auch die Umstände, die zur Zeugung der eigenen Person führten, irgendwo in der serbischen Provinz. Als der Vater zum einzigen Mal in seinem Leben ins Ausland ins benachbarte Italien reist, kehrt er schlecht gelaunt zurück. Die Schuhe, die er in Triest erworben hat, sind nicht wasserdicht. Dafür ist ihm der Kauf von Blumensamen gelungen: An seinem Lebensende entwickelt er eine Leidenschaft für das Malen floraler Motive, mit denen er alte Kisten und leergetrunkene Cognacflaschen verziert. Die formale Ähnlichkeit seines Hauptblumenmotivs mit dem Karzinom, das schließlich seinen Tod herbeiführte, hat alle Nachkommen verblüfft.

Was Danilo Kis hier nicht sagt und was das eigentlich Alptraumhafte dieser Geschichte sein könnte: daß die Biographie des Lebenden und Lesenden auch schon in der Bibliothek vorhanden ist. Nachdem er seine Erzählung veröffentlicht hatte, stieß Kis auf eine Zeitungsnotiz, die diese Wahnvorstellung als Realität meldete und die er daher als Postskriptum angefügt hat: „In einem Granitmassiv östlich ... von Salt Lake City befindet sich eines der seltsamsten Archive der Vereinigten Staaten von Amerika ... Hier werden die Namen von 18 Milliarden Menschen, lebenden und toten, aufbewahrt, die sorgfältig auf 1.000.250 Mikrofilmen registriert sind, die die 'Genealogische Gesellschaft der Kirche der Heiligen des Jüngsten Gerichts‘ zusammengetragen hat.“

Diese Erzählung, zusammen mit zwei weiteren aus demselben Erzählband zu einem anderthalbstündigen Monolog dramatisiert, wird als erste Theaterarbeit der jüngst gegründeten Gruppe Wind-Spiel unter Leitung des jugoslawischen Regisseurs Niksa Eterovic gegenwärtig in den Räumen des jugoslawischen Zentrums der Arbeiterwohlfahrt gezeigt. Sören Pahl als einziger Darsteller der verschiedenen Rollen führt den Zuschauer dabei mit verhaltener Expressivität durch diese ineinander verschachtelten Imaginationsräume, die nur in der dilettantischen Overheadprojektionsmalerei, die das Wuchern des Karzinoms zeigen soll, ungut verdoppelt werden.

Der weiß bespannte Raum mit den wenigen schwarzen Gegenständen erzeugt, zusammen mit der Panflöten-Orgel-Musik des rumänischen Komponisten Georghiu Zamfir, vielleicht eine etwas zu weihevolle und gedämpfte Atmosphäre für die detailbesessene Schilderung des väterlichen Lebens; und auch für die Totenrede des Matrosen im Hamburger Hafen auf die gestorbene Nutte und die Erzählung von der Hinrichtung des Grafen Esterhazy wegen Anführung eines Bauernaufstandes. Den Text unverstellt ins Leben zurückzuübersetzen, scheint ähnlich utopisch zu sein, wie den Geruch der Apfelblüten festzuhalten in der Schrift. Danilo Kis, dessen Biographie in kaum einer deutschen Bibliothek zu finden sein wird, hätte es wohl verdient.

Das jugoslawische Zentrum bietet übrigens für alle, die an jugoslawischer Kultur interessiert sind, jeweils am letzten Freitag des Monats Lesungen jugoslawischer Literatur: Am 27. April gibt es slowenische Lyrik mit deutscher Übersetzung zu hören.

Michaela Ott

Weitere Aufführungen: 5., 9., 12., 19., 20., 26., 28. und 29. April, 20.30Uhr im jugoslawischen Zentrum der Arbeiterwohlfahrt, Großbeerenstraße88, Telefon: 2510128.

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