Aus dem Sizilien der BRD

■ Tagebuchaufzeichnungen vom Anfang des Jahres 1990 aus der Noch-Hauptstadt der Noch-DDR

Lutz Rathenow 31. Januar 199

Das eigene Land mit anderen Worten sehen hören erschreiben? Jetzt, wo sich das Eigentum langsam aus den gesicherten Machtverhältnissen verabschiedet, kann ich das Adjektiv „eigen“ annehmen. Kein fortlaufender Text über ein in Auflösung befindliches Staatswesen (Staatsunwesen, es sollte immer ein liebes Gespenst sein, bitt‘ schön, nicht zu sehr mit ihm schimpfen)... Einzelne Teile einer Identität müssen, können ins Bewußtsein geholt werden.

Das eigene Land mit anderen Worten.

Die erste Zeile ist immer da, als bilde Sprache sich selbst. Dichtend spielen. Ein riskantes Spiel, es macht süchtig und bildet ein Elitebewußtsein. Ein gestatteter Motor für die Lyrik, solange man es zu verbergen weiß.

Nicht wie mancher Jungversling am Prenzlauer Berg, der sich nach zwei Poemen bedeutender als BöllGrassMarquez und alle anderen Nur-Romanschreiber in einer Person hält. Denn die sind ja keine Dichter...

Wieviel Schuldige braucht ein Volk, um sich ehrlichen Herzens unterdrückt zu fühlen? Einen mindetens, den führenden Kopf (den Strohhut verschenkte er vorsichtshalber früher). Zehn bis sechzig besonders fähige Mitläufer gehen in Haft oder Rente - oder geben sich als besonders unterdrückte Widerstandskämpfer zu erkennen. Einmal unterdrückt - immer unterdrückt; auch der Diktator bleibt ein Opfer seines Systems.

Nein, es macht keinen Spaß, dieses Gedicht zu Ende zu schreiben.

Posttotalitäre Dialoge. Dialüge. Zuversichtliches Murren der Kriminellen.

1985 soll die Krise begonnen haben. Sagen Hager und Gysi. Sagten sie jedenfalls vor ein paar Wochen, inzwischen legen sie sicher ein paar Jahre zu.

Ich habe den Schlüssel für die 85er Krise gefunden. Ein Gesetzblatt erstattet Auskunft. Zum Jahreswechsel 85/86 verkündet die DDR eine Erweiterung ihrer Territorialgewässer. Von drei auf zwölf Seemeilen. Wahrscheinlich sollte sich unser Land so von Jahr zu Jahr vergrößern.

Wir haben einen Teil der Ostsee annektiert, da mußte ja die Führung größenwahnsinnig werden.

Der Fernsehturm. Plötzlich wurde mir klar, daß der Fernsehturm immer noch steht. Was hat er jetzt noch für einen Sinn. Früher, ja, da war er der einzige für jedermann zugängliche Ort, nach Westberlin zu blicken. Vermutlich haben sie sogar von den Scheinwerfern an der Grenze nachts ein paar Watt heruntergeschaltet. Der Brillanteffekt verliert an Glanz. Ein Glück, daß ich ihn im Buch verewigt habe.

Aber das Papier soll ja wegen der chemischen Zusätze auch zerfallen.

Tägliche Depressionen in depressionstötender Wut niederschreiben. 1. Februar 199

Auf dem Weg nach Bamberg. Notierte ich nicht anfangs, man bemerke das Überschreiten der Grenze schreibend nicht?

Ich muß mir widersprechen; auch am Gleisbett, auf dem sich der Zug weiterbewegt, ist der Wechsel zu registrieren. Das ruckartige, holpernde Fahren auf DDR-Gleisen macht eine normale Schrift unmöglich. Damit wirkt es einer Betulichkeit, Trägheit entgegen, die auf bundesdeutschen Gleisen mühelos herstellbar ist. Somit hat der nervöse Ton meiner Lyrik mit ihrem Entstehungsort zu tun? Denn erste Entwürfe kommen oft in Zügen zustande.

Gestern auf dem Friedhof gewesen, der die drei verschiedenen Friedhöfe friedlich vereint. Die Toleranz der Toten. Wie immer muß ich suchen, um Fontanes Grab zu finden. Die Engel von Haralds Mauerfoto werden gerade restauriert. Keine Aufnahme aus dem Berlinbuch wurde so oft reproduziert wie die vor der Mauer knienden Engel.

Nun stehe ich vor einer Mauer, die ihre ursprüngliche Funktion verloren hat. Die Stille des Friedhofs bewahrt noch das Schweigen einer Diktatur, die diese Mauer ausstrahlte. Ein Klischee zitiert das Leben.

Nun kann ich jederzeit rüber. Nun würde ich gern einen Tunnel graben. Ganz allein die Grenze unterwandern. Keiner soll zusehen, wann ich mich wohin bewege. Die Grenze individuell überklettern, abseits der Massenbewegungen. Die einzige würdige Art, die DDR zu verlassen, war immer die Flucht.

Jetzt dürfen Kleingartenbesitzer in Grenznähe wieder Leitern besitzen - ein Detail aus dem Fluchtverhinderungsarsenal.

Hätte ich meinen eigenen Tunnel, stieße ich vielleicht auf die letzten Sicherheitsmaulwürfe des rumänischen Diktators. Mit spezieller Technik graben sie sich durch Europa. Der Trupp, der mir begegnet, hat die Richtung verfehlt. Eigentlich wollte er nach Albanien. Über die Fehlgrabung sind sie so entsetzt, daß sie vergessen, mich zu erschießen.

Die letzte Vorlesung an der Universität in Bamberg. Mein erster öffentlicher Auftritt außerhalb der DDR. Mir fehlen Vergleiche, alle reden von einem Erfolg. Besonders die Schlußthese zur Zukunft der DDR-Literatur regt Diskussionen an: Entweder existiert die DDR weiter - dann stirbt ihre Literatur. Oder die DDR löst sich in einem Deutschland auf dann wird ihre Literatur eine neue Blüte erleben, als Renaissance der alten Träume, Hoffnungsraum für unerfüllte Utopien. Diese leben literarisch weit über ihre politischen Plagiatoren hinaus.

Solche dialektischen Spiele lösen Verblüffung aus, das stelle ich bei allen Lesungen fest. Braucht doch die Bundesrepublik die DDR? Lechzen die desorientierten Intellektuellen nicht ein wenig nach geistiger Orientierung? Wir schlucken sie schon schön - die Depressionen der Bundesdeutschen. 2. Februar 199

Im Bistro des Flughafens von Lyon.

Das Bedürfnis, in Englisch weiterzuschreiben.

European dream. Mein erster europäischer Text.

I can not the English language.

Ich gebe mir Mühe, mißverstanden zu werden.

Das habe ich davon, daß ich während einer Reise kaum zum Radiohören komme. Die entscheidende Nachricht einen halben Tag zu spät. Das Einheitsangebot von Modrow. Die Wirklichkeit holt aber auch alle satirischen Fiktionen ein. Was sagte ich noch am Abend zuvor in dem Vortrag: Die SED hat es versäumt, die Eigenstaatlichkeit der DDR zu sichern gleich am Beginn ihrer Wende die rasche, unbedingte Einheit zu propagieren. Die Bevölkerung hätte dann darin einen Trick vermutet und sich dem Einheitsstreben energisch widersetzt.

Jetzt kommt die Kehrtwendung für diese Kalkulation zu spät. Dennoch bleibt nach Modrows Vorschlag nichts beim alten. Er spaltet die ohnehin gespaltene Bevölkerung in dieser Frage noch mehr. Wer die Einheit wollte, will sie jetzt um so energischer - und vor allem nicht neutral. Man muß sich ja von den Kommunisten abgrenzen - also wird der Vorschlag für einen weiteren Rechtsruck in der Deutschlanddebatte verantwortlich sein.

Wer in puncto Einheit skeptisch war, kommt nun eher zu einem „Dagegen“. Und die ohnehin nein sagten und dachten, werden sich erbitterter zur Wehr setzen. Ich spüre es an mir. Seit einem Jahr predige ich eine linke Deutschlandpolitik. Jetzt macht es keinen Spaß mehr, dafür zu sein. Die Mehrheitsentwicklung durch kritische Analyse zu bremsen ist fast eine Frage des Anstands. Und die SED verfügt immer noch über Macht, selbst wenn sie sich weiter demontiert und umbenennt. Sie könnte zum Beispiel den fast sicheren Wahlsieg der neuen SPD abblocken, es brauchen nur genügend SED-Mitglieder ihre Sympathie mit der SPD zu bekunden. Von Eintreten gar nicht die Rede. Es reicht der Geruch von Unterwanderung.

Keinen geschlossenen Text über ein Land in dem Moment, in dem seine Teile auseinanderdriften. „Die rettende Insel suchen, um sie zu versenken.“ Die eigenen Zeilen holen mich unaufhörlich ein. Heute erschien im 'Sonntag‘ der einseitige Essay. Die kulturpolitische Wochenzeitung verkörpert am deutlichsten die veränderten, verbesserten Veröffentlichungsmöglichkeiten in der DDR. Der Text, vor fünf Wochen geschrieben, wirkt gespenstisch aktuell: „Die SED läßt langsam die ökonomischen Fakten aus dem Geheimdatensack, und wir stehen (...) vor dem ökonomischen Kollaps. Wie bei der Reisefrage werden dann die organisierten Kritiker zum zweiten Mal im Abseits stehen, wenn die SED einen Reformplan vorlegt, der uns de facto mit der Bundesrepublik auf ökonomischem Gebiet vereinigt. Wir könnten dann wirklich das Sizilien der Bundesrepublik werden. Und die Partei sieht sich in der Rolle der Mafia, die die einkommenden und auslaufenden Gelder verteilt.“

Hat dazu die Partei wirklich noch die Macht? Oder wollen sich ihre führenden Gangster nicht als politikfähig für ein geeintes Deutschland präsentieren. Auch Egon Krenz mag das Programm der SPD - so sagte er es in einer Talk-Show. Andere SEDler werden wegen ihrer autoritären Führungsstrukturen weiter rechts landen. Sie haben eine natürliche Nähe zu den bundesdeutschen Republikanern.

Heute liest Lutz Rathenow um 21 Uhr im Berliner Buchhändlerkeller in der Carmerstraße 12.