Krebskrank oder arbeitslos?

Die ausschließlich an Produktionserweiterung orientierte polnische Industriepolitik hat in Oberschlesien eine ökologische Katastrophe hervorgerufen / Erhöhte Krebsrate, hohe Säuglingssterblichkeit, Mutationen und verkürzte Lebenserwartung / Die Kosten für eine Modernisierung der Produktionsanlagen sind nicht aufzubringen  ■  Aus Oberschlesien F. Alleweldt

„Wir mußten unseren Telefonanschluß durch direkte Aktion erzwingen“, sagt Wojtek Jaron, der Begründer der Schlesischen Ökologiebewegung in Katowice. „Mindestens zehn Jahre dauert es sonst, bis man einen Anschluß bekommt. Nach vergeblichen Anträgen gingen fünf unserer Aktivisten Anfang Februar mit Megaphon in das Fernmeldeamt und brüllten solange, bis der Direktor kam. Noch am selben Tag hatten wir ein Telefon. Für eine Ökologiebewegung braucht man eine funktionierende Telekommunikation.“

Wojtek, ein Soziologiestudent, organisiert und diskutiert viel, wobei immer wieder sein Lieblingswort „Struktur“ fällt: „In Oberschlesien fehlen die strukturellen Voraussetzungen, um sinnvoll arbeiten zu können. Jetzt haben wir ein Telefon, und wenn wir damit fünfmal hintereinander ein und dieselbe Nummer wählen, hören wir genauso viele verschiedene Wählzeichen und werden mit drei unterschiedlichen Leuten verbunden. Die technische Infrastruktur funktioniert nicht, und für die soziale gilt das gleiche. Unser Ziel ist, ein institutionelles Minimum aufzubauen. Hier ist alles durcheinander, alle wollen sofort etwas tun, ohne die nötigen Werkzeuge zu haben. Das ist charakteristisch für Polen: Mit Gabeln gegen Panzer kämpfen.“

Das Oberschlesische Industrierevier im Bezirk Katowice ist in den Worten des Vizevorsitzenden der Umweltkommission des polnischen Parlaments, Stefan Kozlowski, „das weltweit schlimmste Beispiel für eine von Menschen geschaffene ökologische Katastrophe.“ Im Bezirk Katowice im Süden Polens, kaum größer als das Ruhrgebiet, wird pro Jahr annähernd so viel Schwefeldioxid in die Luft geblasen wie in der gesamten Bundesrepublik. Im Zentrum dieser Zusammenballung von Fabriken, Bergwerken, Bleihütten und Kokereien gibt es im Schnitt pro Quadratkilometer fünf luftverschmutzende Betriebe.

Die qualmenden Schlote liegen oft direkt neben Wohnhäusern und Gärten, denn manche Städte sind seit der Entstehung des Reviers vor 200 Jahren um Industrieanlagen herumgewachsen. Über die davon ausgehenden Gefahren ist sich die Bevölkerung nach jahrelanger Informationssperre für Umweltdaten kaum bewußt. Stefan Kozlowski berichtet: „In bestimmten Gebieten darf jetzt in Kleingärten kein Gemüse mehr angebaut werden. Trotzdem wird überall angebaut.“

Die Auswirkungen auf die Menschen sind verheerend. Oberschlesien macht krank - die Krebsrate und die Säuglingssterblichkeit sind erhöht, es gibt mehr Frühgeburten und die Lebenserwartung ist geringer als im Landesdurchschnitt. Stefan Kozlowski kommentiert: „In Oberschlesien wurde bewiesen, daß die Luftverschmutzung Einfluß auf die gesamte Kondition des Menschen hat. Und das nicht nur für unsere Generation: Es wurde eine erheblich höhere Mutationsrate der Erbsubstanz festgestellt. Dort entwickelt sich eine neue, geschädigte Generation von Europäern.“ Welche Ursachen hat diese Katastrophe?

Technologische Dinosaurier

„Seit dem Krieg wurden unsere Betriebe zwar modernisiert. Aber dies diente nicht dem Umweltschutz, sondern der Produktionserweiterung“, sagt Juliusz Olejnik, der technische Direktor des Kombinats „Koksochemiczny Zabrze“. Die modernste der acht qualmenden Kokereien des Kombinats wurde vor über siebzig Jahren gegründet. Fast alle Betriebe der oberschlesischen Schwerindustrie sind technologische Dinosaurier dieser Art. Sie verbrauchen drei- bis fünfmal mehr Energie als vergleichbare westliche Betriebe und verschmutzen in noch höherem Maße die Umwelt.

Dabei zeigte eine schwedische Studie, daß sich der Energieverbrauch der polnischen Industrie durch besseres Management ohne großen Kapitalaufwand um 20 bis 25 Prozent senken ließe. Doch die verfehlte Industriepolitik der letzten vierzig Jahre erzeugte nicht den dafür nötigen Rationalisierungsdruck. Zwar mußten besonders umweltverschmutzende Betriebe Geldbußen zahlen, doch „war es bisher ausreichend, Pläne für die Sanierung einer umweltschädigenden Anlage zu haben, um keine Strafe zu zahlen“, berichtet ein Umweltwissenschaftler. „Die Realisierung wurde nur danach beurteilt, inwieweit die verplanten Mittel auch ausgegeben waren, nicht nach den tatsächlichen Resultaten.“

Die Zeiten der zentralen Planung, bei der den staatlichen Betrieben Investitionsmittel vom Warschauer Industrieministerium zugeteilt wurden, sind vorbei. Seit einem Jahr sind sie wirtschaftlich unabhängig und müssen das Geld für Investitionen selbst erwirtschaften. Kombinatsdirektor Olejnik sagt resigniert: „Es gibt heute kein Unternehmen in Polen, das die Kosten einer Modernisierung selbst abdecken kann.“ Zwei Kokereien des Kombinats sollen in nächster Zeit geschlossen werden, weitere Schließungen sind abzusehen.

Dieses Schicksal droht der ganzen veralteten Schwerindustrie, die der Öffnung zum Weltmarkt nicht standhalten wird. Pavel Barteczko, Chefkommentator für Umweltfragen der Nachrichtenagentur 'Interpress‘, beschreibt die Endzeitstimmung im Land: „Die Politik der Betriebe folgt im Augenblick der Maxime: Wir wollen überdauern. Kein Betrieb zahlt dem anderen etwas, alle sind mit Zahlungen im Rückstand. Die Leute machen sich über Umweltpolitik keine Gedanken.“

Hilflose Administration

Die Umweltverwaltung des Bezirks Katowice gibt kaum vor, ein Konzept für eine Sanierung der Region zu haben. In den nächsten Jahren sollen rund zwanzig umweltgefährdende Betriebe geschlossen werden. Der Einbau von Entschwefelungsanlagen in Kraftwerke ist zwar geplant, mit den vorhandenen Mitteln nicht zu realisieren. Ohnehin ist die Umweltverwaltung unzureichend ausgestattet: So sind für die Überwachung der Müll- und Schutthalden des Bezirks, die eine Fläche von 50 bis 100 Quadratkilometer umfassen, gerade drei Mitarbeiter zuständig. Im ganzen Bezirk mit vier Millionen Einwohnern gibt es keinen einzigen Meßwagen für Umweltschadstoffe. Die Verwaltung ist ineffizient, denn es gab nach den Worten eines Kritikers eine „negative Kaderselektion“: Beamte wurden nach politischen Kriterien ausgewählt, und nicht nach Kompetenz.

Nach den politischen Umwälzungen der letzten Jahre zerfällt die alte Administration. „Alle Beamten fürchten den Rausschmiß“, sagt 'Interpress'-Kommentator Pavel Barteczko. „Sie sind an nichts anderem mehr interessiert, als Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen.“

Für den Aufbau einer effizienten Verwaltung sind die ersten freien Kommunalwahlen, voraussichtlich im Mai, ein entscheidendes Datum. Dabei soll die zentralistische Verwaltung zugunsten einer kommunalen Selbstverwaltung aufgegeben werden. Die Konsequenzen sind noch nicht abzusehen: Auf der einen Seite wird es nun für die Städte erstmals möglich sein, umweltgefährdende Betriebe auf ihrem Gebiet zu schließen. Auf der anderen Seite werden geschlossene Betriebe sinkende Steuereinnahmen bedeuten, und vor allem Entlassungen.

Eine große Rolle in diesem Interessenkonflikt spielt die Haltung von Solidarnosc, deren Oppositionsmonopol immer mehr zum Regierungsmonopol wird. „Solidarnosc kann nicht generell für eine Schließung von umweltgefährdenden Betrieben wie zum Beispiel den alten Kokereien sein“, erläutert Wiktor Ostrowski, der Sprecher der Gewerkschaft Solidarnosc in Oberschlesien. „Wir müssen auch überlegen, was mit den Arbeitern passiert. Das Industrierevier sollte langsamer restrukturiert werden. In anderen Ländern war es ein 30 Jahre langer Prozeß, und hier soll es in einem Monat gehen. In diesem Jahr wird es in Oberschlesien wahrscheinlich 100.000 bis 200.000 Arbeitslose geben. Überbrückungsgelder bekommen sie nur drei Monate lang. Die ideale Entscheidung wäre statt einer Schließung der Bau einer neuen Anlage, die nicht schädlich für die Umwelt ist.“ Da diese Lösung aber in den meisten Fällen nicht in Frage kommt, spielt bei zukünftigen Entscheidungen der Druck von unabhängigen Umweltorganisationen eine große Rolle.

„Unser Ziel ist es, an den nächsten Kommunalwahlen in vier Jahren als Grüne Partei teilzunehmen. Jetzt sind wir dazu noch nicht imstande“, sagt Umweltaktivist Wojtek Jaron. Zu einem eigenständigen Wahlbündnis von Umweltgruppen und den zersplitterten polnischen Grünen wird es in Oberschlesien aller Voraussicht nach nicht kommen. Das Büro ist gerade eingerichtet. Bislang gibt es nur einen frisch gestrichenen Raum, den die Gewerkschaft Solidarnosc der Schlesischen Ökologiebewegung vor einigen Monaten zur Verfügung gestellt hat. Wojtek Jaron erklärt: „Wir müssen erst aufbauen. Wir werden ein Umweltzentrum gründen. In dem Haus sollen Schulungen für Gewerkschafter, Lehrer und junge Leute stattfinden, es soll eine Umweltbibliothek geben und ein Labor für unabhängige Gruppen.“

Die Reformbewegung ist noch im Aufbau begriffen, die Verwaltung ist ineffizient, die staatlichen Betriebe sind kurz vor dem Kollaps. Wer kann die Umwelt in Oberschlesien noch sanieren?

Hoffnung: Joint-ventures

„Wir bauen Schutthalden ab, recyclen den daraus gewonnenen Schrott und verarbeiten den Rest zu Grundstoffen für die Bauindustrie“, erläutert Joachim Sombert, der Initiator des deutsch-polnischen Gemeinschaftsunternehmens „ithk“ in Chorzow. Es ist das mit 600 Beschäftigten größte Joint -venture Oberschlesiens und das einzige auf dem Umweltsektor. „In ein paar Jahren werden wir einige Hektar freigeräumt haben und an die Stadt zurückgeben“, sagt er stolz. Für die Müllprobleme der oberschlesischen Städte hat das Unternehmen, das vorzugsweise Arbeiter mit deutschen Sprachkenntnissen einstellt, eine probate Lösung. Zusammen mit Thyssen wollen sie moderne Müllverbrennungsanlagen bauen und teilweise finanzieren. Joachim Sombert erläutert: „Langfristig könnten dann die Kommunen durch die Abgaben für die Müllentsorgung die Kredite abbezahlen.“

Viele in der Region setzen schon fast irrational große Hoffnungen auf Joint-ventures, denn bisher spielen sie keine nennenswerte Rolle. Dabei gibt es durchaus polnisches Know -how für eine Sanierung.werden nicht richtig betrieben, da sind große Reserven. Zum Beispiel habe ich als Umweltingenieur in einem Kohlebergwerk gearbeitet, wo der Verantwortliche für die Kläranlage ein Analphabet war“, sagt Henryk Gawel, Mitbegründer des ersten privaten Umweltingenieurbüros Oberschlesiens. „Hauptidee unseres Büros ist, mit kleinen und mittleren Unternehmen zu kooperieren. Die polnische Industrie kann zwar keine großen Modernisierungen machen, aber sie ist in der Lage, zu rationalisieren, und da kann unser Büro einspringen. Im Augenblick gibt es für uns aber keinen Markt, da die Unternehmen ums Überleben kämpfen.“ So mußte sich das Ende letzten Jahres gegründete Büro von sechs gleichberechtigten Ingenieuren bisher mit fachfremden (Bau-)Aufträgen über Wasser halten. Doch Henryk Gawel ist optimistisch: „Es wird eine Konjunktur für Umweltanlagen geben. Der gesellschaftliche Druck, der durch die kommunale Selbstverwaltung Form annimmt, wird dazu führen.“

So sicher es ist, daß für eine Sanierung wichtige Weichenstellungen in Oberschlesien selbst gestellt werden müssen, so sicher ist auch, daß die Region die Sanierung aus eigenen Kräften nicht verwirklichen kann. Wie sind die Chancen für ein nationales Hilfsprogramm?

Kolonie Oberschlesien

In der Region ist oft das Wort von der „Innenkolonie“ Oberschlesien zu hören, die von der Regierung in Warschau ausgebeutet werde. Für die letzten vierzig Jahre entspricht dies wohl auch den Tatsachen, aber für den neuen Umweltminister, so sagt Vizeminister Maciej Nowicki, „hat Oberschlesien oberste Priorität“. Ende Juni will das Ministerium in Warschau einen eigenen Sanierungsplan vorlegen. Umweltminister Bronislaw Kaminski erklärte allerdings kürzlich nach einem Bericht der Zeitung 'Rzeczpospolita‘, es sei zwar nicht ausgeschlossen, Gelder des (äußerst bescheiden ausgestatteten) staatlichen Umweltfonds aus anderen Regionen nach Oberschlesien umzuleiten, doch widerspreche dies den Gesetzen der Marktwirtschaft, nach denen der Verursacher selbst den entstandenen Schaden korrigieren müsse.

Ein Solidarnosc-Abgeordneter im polnischen Parlament, Radek Gawlik, beschreibt das Dilemma der polnischen Umweltpolitik: „Umweltschutz ist das wichtigste Problem, aber nur eines unter vielen.“ Er hält einen nationalen Hilfsplan zur Zeit für unrealistisch: „Wir können eine Restrukturierung Oberschlesiens frühestens ab nächstem Jahr planen, wenn die Wirtschaftspolitik der Regierung Wirkung gezeigt hat. Betriebe, die zu viel Energie verbrauchen, sind zum Tode verurteilt. Man muß warten, was übrigbleibt, und dann die Industrie neu aufbauen. Jetzt ist es sinnlos, in Fabriken zu investieren, die dann doch geschlossen werden.“ Andrzej Kassenberg, der stellvertretende Vorsitzende des polnischen ökologischen Klubs, einer vorwiegend von Wissenschaftlern getragenen Organisation, umreißt den Handlungsspielraum der Warschauer Regierung: „Was wir tun können, ist die Rahmenbedingungen zu verändern, zum Beispiel indem wir die Energiepreise erhöhen, bis sie Weltmarktniveau erreicht haben. Das ist ein erster Schritt, und den gehen wir bereits.“

Der Weg zu einer Sanierung Oberschlesiens ist lang. Andrzej Kassenberg ist optimistisch, daß die polnische Gesellschaft auch diese Aufgabe bewältigt: „Ich glaube an die Kraft dieser Gesellschaft, die Jahrzehnte gegen ein totalitäres System war und dagegen nicht mit Waffen, sondern mit dem Wort gekämpft hat. Ohne Solidarnosc wären die Veränderungen in ganz Osteuropa nicht möglich gewesen. Wenn es uns möglich war, dieses System zu verändern, wird es uns auch gelingen, eine neue Gesellschaft aufzubauen und dabei die Umweltprobleme zu lösen.“