Anti-Stasi-Gesellschaft - aber kein Anti-Stasi-Staat

■ Die Aufarbeitung muß vom Staat auf die Gesellschaft übertragen werden

Ibrahim Böhme war ein Don Quichote der Realpolitik, das Gegenteil eines Charismatikers, ein Politiker, der unter dem Politikersein öffentlich litt. Er zeigte unübersehbar, wie schwer er daran trug, daß er mitverantwortlich war für die Spaltung der DDR-Opposition. Das machte ihn sympathisch. Nun aber, unter dem Verdacht der Stasi-Mitarbeiterschaft, tauchen neue Vermutungen zur Erklärung seiner Mitarbeiterschaft auf. Er ist mit dem Verdacht von der politischen Szene abgetreten und hinterläßt einen Generalverdacht für diese Szene. Böhmes Schicksal könnte weit mehr als der Fall Schnur - eine Vorwegnahme der nächsten DDR-Zukunft, der Vorherrschaft der Vergangenheit über die Tagespolitik sein.

In den Kommentaren der bundesdeutschen Zeitungen werden dann angesichts der Fälle Kirchner, de Maiziere, Böhme die tragischen Abgründe der Verstrickung zitiert. Amnestie wird gefordert. Das Problem ist aber: Ob Amnestie oder bedingungslose Aufklärung - mit dieser Vergangenheit wird es keinen kurzen Prozeß geben. Eine Amnestie ist aus zweierlei Gründen unsinnig: Es herrscht in der DDR keineswegs Konsens, welche Art von Tatbeständen denn amnestiert werden sollen. Zudem sind Akten, Kopien von Akten und Kopien von Kopien auf dem Markt. Die Forderung nach einer politischen Überprüfung ist wiederum keine einfache Lösung. Sicher ist das Argument richtig, daß künftige Abgeordnete nicht erpreßbar sein dürfen. Aber wie und wer soll überprüft werden, wenn dies als eine quasi automatische Eingangsprüfung ins politische Amt, als eine staatliche Unbedenklichkeitsbescheinigung praktiziert werden soll? Wo hört man auf? Volkskammerabgeordnete, künftige Landtagsabgeordnete - ja; soll man bei Stadtverordneten aufhören? Und was ist mit den künftigen Staatsanwälten, Lehrern? Die unabsehbare Quantität schafft eine Überprüfungsinstitution von einem derart immensen Mitarbeiterstab, der natürlich auch überprüft werden müßte. Ganz abgesehen davon, daß Zweifel berechtigt sind, ob eine solche Institution zweifelsfreie Persilscheine garantieren kann. Eher ist wahrscheinlich, daß um eine derartige Institution eine neue Dunkelzone entstehen wird.

Eine Erfahrung nach dem Nationalsozialismus ist jedenfalls anwendbar: Staatliche Prozeduren analog den Entnazifizierungsverfahren, also eine staatlich obligatorische Entstasisierung, sind fatal, schaffen kaum die Voraussetzung für eine neue Demokratie. Es muß ein politischer Konsens erzielt werden, daß Mitarbeiterschaft per se niemanden von der politischen Demokratie ausschalten darf. Auch deswegen, weil die Stasi nicht ein Krake war, der den guten Kern der Gesellschaft umklammerte, sondern Teil dieser Gesellschaft. Strafrechtlich erkennbare Tatbestände müssen verfolgt werden. Allerdings gilt auch da: nulla poena sine legge. Mit anderen Worten: Die politische Auseinandersetzung um die Stasi-Vergangenheit muß konsequent der Gesellschaft überlassen werden. Prinzipiell muß klar sein, daß die neue Demokratie nicht von staatlich geprüften Demokraten, von einer staatlich sanktionierten Glaubwürdigkeit garantiert werden darf; sie wird durch eine Kultur der öffentlichen Kontrolle entstehen, eine Kultur, die sich eben im Widerspruch zwischen Lynchjustiz und Vergessenwollen herausbildet. Der individuelle Mut sollte eine Chance haben. Die künftigen Volkskammerabgeordneten wären gut beraten, wenn sie sich bemühen würden, in diesem Sinne Vorbilder zu sein. Nur eine Garantie muß vom DDR-Staat gegeben werden: daß jeder Bürger das Recht hat, seinen eigenen guten Leumund im Falle eines Verdachtes wiederherzustellen. Er muß die Garantie haben, über Mitarbeiter und Experten zu verfügen, die helfen, seine Stasi-Akte zu rekonstruieren. Nur dann entsteht eine persönliche Verantwortung für den Verdacht. Die Aufarbeitung der Vergangenheit muß von der Gesellschaft aufs Individuum übertragen werden.

Klaus Hartung