In Jena kämmt jeder seinen eigenen Igel

Die Konservativen in der DDR-Provinz sind anders als ihre Brüder im Westen / Wenn die Westler kommen: Gangster, Goldgräber und eine ungewisse Zukunft / Von den Hoffnungen des Mittelstands und den Ängsten der Arbeitslosigkeit  ■  Aus Jena Klaus Hillenbrand

Der Platz der Kosmonauten ist deutlich zu groß geraten. Rund um den als „Penis Jenensis“ verspotteten Büroturm der Universität kündet gähnende Leere vom vergangenen Größenwahn der SED. Belebter sind die Straßen rund 200 Meter weiter, dort, wo einige alte Bürgerhäuser Krieg, Wiederaufbau und Verfall überstanden haben. Der „Kölner Flitzer“ ist da: Orangen gehen das Kilo für 7 Mark über die Marktstände. Aus einem Wohnwagen verkauft ein Westdeutscher Fruchtjoghurt, Orangengetränke und Apfelsaft aus Aldi-Beständen - ein Liter für 5 Mark der DDR. Daneben werden BRD-Magazine angepriesen. 'Stern‘, 'Frau im Spiegel‘ oder 'Das Goldene Blatt‘ gibt's zwar zum Kurs von 1:1, aber die Zeitschriften sind drei Wochen alt und entstammen offensichtlich einem westdeutschen Altpapiercontainer. Der Absatz ist dennoch reißend.

„Gauner sind das, einfach Gauner“, schimpft Dieter Lange. Der 32jährige in stonewashed Jeans besitzt zusammen mit seiner Frau einen kleinen Lebensmittelladen in der Karl -Liebknecht-Straße. Jahrelang haben sie sich über die staatlichen Lieferzuteilungen geärgert, weil sie, die Selbständigen, noch weniger erhielten als die HO-Läden. Jetzt kommen die Westdeutschen. Dieter Lange hat sich in der Jenaer Partnerstadt Erlangen die Läden angesehen. Ein so kleines Geschäft wie das seine hat er dabei nicht gefunden. Angesichts der drohenden Konkurrenz macht er sich keine Illusionen: „Ich weiß, daß ich zumachen kann.“ Im Notfall könne er auch wieder Taxi fahren.

Trotzdem ist der Vater zweier Kinder optimistisch. „Ich habe keine Angst.“ Zwischen unausgepackten elektrischen Schreibmaschinen und einem Kopierer (Geschenken aus Bayern) in der Ecke des frisch tapezierten Raums repräsentiert Lange als Kreisgeschäftsführer die DSU. Thüringen wählt konservativ, und da ist Jena keine Ausnahme. 9,2 Prozent der Stimmen hat die DSU bei den Wahlen am 18. März in Jena-Stadt erhalten, im Kreis waren es 6,7 Prozent. Die CDU kam in Jena auf 33,9 Prozent, im Kreis erhielt sie satte 54,9 Prozent. Bei den Kommunalwahlen am 6. Mai komme es jetzt darauf an, so Martin Balteweg vom DSU-Kreisvorstand, „begründeten Optimismus zu vermitteln“.

DSU gegen Anschluß

Die DSU-Mitglieder entsprechen so gar nicht dem gewohnten Bild des aalglatten CSU-Funktionärs und Politikerprofis aus dem Westen. Zwar kommt regelmäßig ein Lieferwagen mit westdeutschem Kennzeichen und liefert Plakate und Propagandamaterial. Es gab auch schon ein Kurzseminar der Hanns-Seidl-Stiftung in Jena, und ein Münchner Bundestagsabgeordneter hat für seine „Freunde“ im Norden die persönliche Wahlkampfschatulle geöffnet. Doch warum die DSUler in der DSU sind und die Partei knapp zehn Prozent der Stimmen erhielt, ist vor allem eine private Frage. „Das beruht alles auf persönlichen Kontakten“, meint Balteweg, ein sympathischer Vollbartträger ohne Schlips und Kragen, der früher einmal FDJ-Kreissekretär war. „Da gab es welche, die haben Leute beherbergt, von denen sich dann herausstellte, daß sie Abgeordnete der CSU waren.“ Zu ihm sei der Haschke, der jetzt in die Volkskammer einzieht, gekommen. „Der hat gefragt: 'Willst du mitmachen?‘ Seitdem bin ich dabei.“

In Jena und Umgebung herrschen die Gesetze des Dschungels. Die alten Vorschriften im DDR-Arbeits- und Eigentumsrecht zählen, obwohl formal gültig, nichts mehr. Neue gibt es nicht. Horten übernimmt in einem Joint-venture auf 90 Jahre das fast fertiggestellte Kaufhaus der Stadt. Westdeutsche Brauereivertreter buhlen in den wenigen Kneipen um neue Absatzmärkte. Rund 100 Firmen aus der Bundesrepublik wollen in Jena „einsteigen“. Herren in schweren Limousinen aus München und Untertürkheim kurven über die Kleinpflasterstraßen des Thüringer Waldes. Bei Probszella sind die ersten Zigarettenautomaten installiert („Bitte nur Westgeld einwerfen“), Grundstücke und Häuser wechseln gegen harte Valuta den Besitzer. Gerüchte und Geschichten blühen. In Camburg soll der Bürgermeister sein eigenes Rathaus an einen Ägypter verkauft haben. In einem Dorf habe eine komplette Kneipe für 10.000 Westmark den Besitzer gewechselt. DSUler Balteweg: „Früher waren wir wie die Schafe, die in der Herde geführt worden sind. Jetzt muß jeder selbst wissen, wie er zurechtkommt.“

Was die DSU in Jena von der CDU unterscheidet, bleibt unklar. Die „Marktwirtschaft“ wollen beide möglichst rasch, die Vereinigung nach Grundgesetzartikel 23 sowieso. Abgesehen von der unterschiedlichen Parteiengeschichte fällt Martin Balteweg nur ein, daß „wir die Schwesterpartei der CSU sind“. Was aber nicht heißt, daß man nun auch in allen politischen Fragen die Meinung des Gönners aus dem Süden teilt. Thüringen ist nicht Bayern, und die DDR-Konservativen sind keine westdeutschen Reaktionäre. Beim Paragrapph 218 zum Beispiel ist Balteweg der Meinung, „daß die Regelung so bleiben soll, wie sie bei uns hier ist“. Seine Begründung: „Man kann so was nicht durch Gesetze regeln. Man kann das zwar durch Gesetze erschweren, aber im Westen gehen ja die Frauen, die materiell dazu in der Lage sind, einfach in ein anderes Land. Die Krankenkassen sollten das auch weiter übernehmen.“ Und zur Diskussion um die Oder-Neiße-Grenze meint Dieter Lange nur, daß „das hier keiner versteht. Hier finden Sie niemanden, der die Grenze verrücken will.“ Ansonsten? „Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, was die Leute wirklich wollen, eben die Einheit. Sie wollen möglichst schnell die Währungsunion, weil das doch das Wesentliche ist.“

Jena vor der Pleite?

In der „Wartburg“, einer Eckkneipe in einem heruntergekommenen Viertel nahe der Innenstadt, findet der Stammtisch noch regelmäßig zusammen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Trainer des Sportclubs wissen, daß jeder zweite von ihnen demnächst „abgebaut“, also entlassen werden wird. Für Spitzensport ist kein Geld mehr da. Beim mit über 50.000 Beschäftigten größten Arbeitgeber, dem Zeiss -Kombinat, gehen wilde Gerüchte um, die Hälfte der Belegschaft würde demnächst gekündigt. Die ersten hat es vergangene Woche getroffen. In einem Zeiss angeschlossenen Ingenieurbetrieb gab es vor zehn Tagen die erste Entlassung: Gefeuert wurde eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Ende dieser Woche sollen 77 weitere folgen - wen es trifft, entscheidet allein der Direktor. Im Stammbetrieb sollen als erstes die Behinderten fliegen. Betriebsräte gibt es nicht. Die Betriebsleiter sind in der Regel dieselben wie vor der „Wende„; nur haben sie inzwischen ihr Parteibuch abgegeben.

Der rechtsfreie Raum ist für DSUler Lange ein wesentlicher Grund, warum sich die Verhältnisse möglichst schnell ändern müssen. Daß es „so nicht weitergehen kann“, ist allerdings klar. Aber: „Beitreten ist kein Anschluß“ (Lange). „Verschiedene Ecken und Kanten müssen auch von uns eingebracht werden.“ Aber wie er all die gegen die übermächtige Bundesrepublik, gegen die CSU gar, duchsetzen will, bleibt nebulös. Wie die kleine Jenenser DSU (ca. 150 Mitglieder im Kreis) gegen die Herren aus München bestehen soll, ebenfalls.

Nein, als „politischen Gegner“ möchte er die CDU und DSU nicht verstanden wissen, meint ein Mitglied des örtlichen Neuen Forums am Rande der Demonstration gegen Stasi -Herrschaft und Amnestie. Höchstens als Konkurrenten. Auf der Kundgebung sprechen auch Vertreter der konservativen Parteien. Man kennt sich eben. Udo Haschke, jetzt Kreisvorsitzender der CDU, hat von Beginn an im Neuen Forum mitgearbeitet. Sein Bruder Jürgen zieht auf der DSU-Liste in die Volkskammer. Bei der Frage der Stasi-Hinterlassenschaft ist man sich in der Jenenser Provinz ohnehin einig. Vorschläge wie die einer Amnestie seien vollkommen unmöglich und könnten nur aus der BRD kommen, meint Dieter Lange von der DSU, und vor Erregung bricht er eine der ehernen Wahrheiten vom einig Volk und Vaterland: „Der Haß unseres Volkes ist so groß, das versteht keiner von eurem Volk.“ Die örtliche CDU hat in einem Brief an das Präsidium die Partei aufgefordert, für eine komplette Überprüfung der Volkskammerabgeordneten einzutreten. Ihr Vorsitzender Udo Hascke, der auch erst seit Februar in Amt und Würden bei der Ex-Blockpartei ist, nachdem sein Vorgänger gen Westen entschwand, hat aber auch Befürchtungen: „Ein Freund in Gera hat als Mitglied des Bürgerkomitees seine Akte eingesehen. Er ist immer noch nicht darüber hinweg, erfahren zu müssen, welche seiner Freunde Informationen geliefert haben. Die totale Offenlegung würde dieses Land wahrscheinlich erst recht ruinieren. Es können zwei Millionen Stasi-Leute gewesen sein. Ich möchte es nicht von jedem wissen.“ Zwei von 17 Millionen DDR-Bürgern: Das wären in Jena etwa 11.000 von 100.000 Einwohnern.

In der CDU-Geschäftsstelle im 1.Stock eines Altbaus herrscht reger Betrieb. Nebenan debattiert der Jenenser Ortsverein über die Kandidaturen für die Kommunalwahlen wer ist so belastet, daß er nicht aufgestellt werden kann? CDU-Chef Udo Haschke, mit korrekter Krawatte und Anzug, ist überarbeitet. Der Lehrer hat neben einer Unzahl anderer Tätigkeiten auch die undankbare Aufgabe übernommen, in einer Kommission zu sitzen, die sich um die Zukunft von Zeiss bemüht. „Ich muß ständig Nachschlagewerke lesen, um das zu verstehen.“ Das Kombinat soll wieder wie früher Stiftungseigentum werden. Doch „das Rücklagekapital ist weg“, verbraten in Berlin. Zeiss habe Produkte anzubieten, die durchaus „marktfähig“ seien. Doch der Betrieb arbeite ineffektiv. Entlassungen seien unvermeidlich, „eine Erhöhung der Produktivität geht nur mit Kapitalhilfen“.

Bei der Stadtverwaltung stapeln sich die Anträge auf Gewerbeeröffnungen. Jeden Tag kommen etwa 100 neue. Allein 70 Jenenser Ärzte wollen selbständig praktizieren, aber es gibt keine Räumlichkeiten. DSU-Mann Lange will seinen Laden spezialisieren, um der westlichen Konkurrenz gewachsen zu sein. Wie, sagt er nicht - es könnte ein anderer auf dieselbe Idee kommen. Am „Wartburg„-Stammtisch wird über gängige Kreditzinsen bei Westbanken für Betriebsgründungen spekuliert. Angesichts der ungewissen persönlichen Zukunft verschwindet die alte Solidarität des Mangels und macht der Freiheit der Ellenbogen Platz. „Hier kämmt jetzt jeder seinen eigenen Igel“, so Jürgen* beim Bier. Einige alte Bekannte hat er schon lange nicht mehr gesehen. Auch in der Politik hat die Solidarität der Opposition schon einen Knacks bekommen. „Es hat sich geändert“, meint Haschke, der seit Oktober aktiv dabei ist. „Der Hauptgrund war die Beteiligung der bundesdeutschen Parteien. Jetzt sind, glaube ich, alle Beteiligten sehr unglücklich über die Entwicklung, daß man sich gegenseitig bekämpft.“

Bei der Anti-Stasi-Kundgebung im Schatten des „Penis Jenensis“ werden vergangene revolutionäre Zeiten beschworen. „Der Geist des Herbstes ist wieder hier, wenn ich Sie sehe“, ruft Pfarrer Schröder der Menge zu. „Das Volk zeigt sich wir sind das Volk!“ Doch die alten Zeiten sind vorbei, spätestens nach den Kommunalwahlen am 6. Mai.

*Name von der Red. geändert