Nach 16 Jahren verwischt die Erinnerung

■ Zur Eröffnung des vierten Prozesses um die Ermordung des Studenten Ulrich Schmücker verlangt die Verteidigung die Einstellung des Verfahrens / „Unüberwindliche Verfahrenshindernisse“ / Neue Verfassungsschutzakten sollen dem Gericht zur Verfügung stehen

Berlin (taz) - Fast 16 Jahre nach der Ermordung des Studenten Ulrich Schmückers in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1974 glaubt die Verteidigung nicht mehr an die Möglichkeit eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens. In mehrstündigen Erklärungen listeten die Verteidiger gestern zur Eröffnung der vierten Runde des Prozesses eine Fülle „unüberwindlicher Verfahrenshindernisse“ auf und verlangten die Einstellung der Verhandlungen.

Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft, wie in den drei früheren Prozessen, den Vorwurf des gemeinschaftlich begangenennen Mordes bekräftigt (siehe taz vom 4. April). Die Hauptangeklagte Ilse Schwipper (52) sei zusammen mit vier weiteren Angeklagten schuldig, den damals 22jährigen Ulrich Schmücker, der seine Mitarbeit beim Berliner Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) eingestanden hatte, als Verräter „gemeinschaftlich handelnd aus niederen Motiven getötet zu haben“.

Der gestrige Start in die vierte Runde des Endlosverfahrens bedeutete gleichzeitg den insgesamt 538sten Verhandlungstag. Die immensen Aktenbestände werden um eine ganze Reihe weiterer Unterlagen anwachsen, die den Gerichten während der vergangenen 14 Jahren vorenthalten wurden. Allein 18 Leitz -Ordner des Berliner Polizei-Präsidenten über Schmücker sind dem Gericht am vergangenen Dienstag vom parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der seit fünf Monaten die Verstrickungen des VS in den Mordfall untersucht, überstellt worden. Zum ersten Mal wird das Gericht auch in Akten des hessischen Verfassungsschutzes über den Hauptbelastungszeugen Jürgen Bodeux einsehen können. Zwei Bände mit etwa 600 Seiten wurden am 29. März von den Geheimdienstlern freigegeben.

An ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren glauben die Angeklagten und ihre Anwälte dennoch nicht - auch wenn Kronzeuge Bodeux dem Gericht Anfang der Woche mitteilen ließ, daß er Mitte September für Aussagen zur Verfügung stehe. Zu weit lägen die Ereignisse zurück, monierte Rechtsanwalt Reiner Elfferding, als daß sich die Zeugen noch hinreichend genau an konkrete Ereignisse erinnern könnten. Kronzeuge Bodeux sei beispielsweise vor Gericht schon 55 mal vernommen worden. Die Grenze zwischen Erinnerung, Mutmaßung oder Erzählung müsse dabei zwangsläufig verwischen.

Rechtsanwalt Philipp Heinisch beanstandete für seine Mandantin Ilse Schwipper im besonderen, daß „die Strafverfolgung unter Außerachtlassung grundlegender Rechtsstaatsprinzipien betrieben“ wurde. Er erinnerte an verschwundene Beweismittel, langjährige Prozesse zur Herausgabe geheimer oder als nicht existent deklarierter Unterlagen und das generelle Bestreben der Behörden und Geheimdienste, „erforderliche Beweismittel aus den Beweisaufnahmen herauszuhalten“. Er stelle sich die Frage, was noch geschehen müsse, damit ein Gericht „eine derartige Gängelung, Manipulation und Durchdringung einer Strafsache durch den Verfassungsschutz nicht länger hinnimmt“. Die 18. Strafkammer hätte „hier und heute eine Gelegenheit, einen sauberen Schnitt zu machen und das Ansehen des Rechtsstaates, das durch dieses Verfahren besonders beschädigt worden ist, wieder herzustellen“. Der Prozeß wird am Montag fortgesetzt.

Wolfgang Gast