Autonom oder bloßes Vereinigungsorgan?

■ Heute tritt in Ost-Berlin die Volkskammer der DDR zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen

Zweieinhalb Wochen nach den ersten freien Wahlen in der 40jährigen Geschichte der DDR treten heute die 400 Abgeordneten der neuen Volkskammer im Palast der Republik zusammen. Inhaltlicher Höhepunkt der konstituierenden Sitzung ist die Übergabe des am Runden Tisch erarbeiteten Verfassungsentwurfes. Außerdem wird der Staatsrat abgeschafft und ein Präsidentenamt eingerichtet.

Wenn sich heute im ehemaligen ZK-Gebäude in Ost-Berlin die erste frei gewählte Volkskammer der DDR konstituiert, demonstriert schräg gegenüber im Lustgarten die außerparlamentarische Opposition. Zur Kundgebung „gegen den Ausverkauf“ des Landes hat der FDGB aufgerufen. Die Unterstützung der Demonstration durch PDS und Bündnis 90 ist sicher. Angesichts der sich abzeichnenden großen Koalition, die die Bedeutung der Parlamentsopposition erheblich mindern wird, sind beide Fraktionen auf außerparlamentarische Unterstützung angewiesen. Deren Bedeutung für die Zukunft des Landes kann angesichts der sozialen Unwägbarkeiten des Einigungsprozesses kaum überschätzt werden.

Die neue Volkskammer ist dank der klaren Einheitsperspektive ein Übergangsparlament. Doch die Frage, ob sie die Übergangsrolle nutzt, um eigenständige Akzente auch im Hinblick auf den Einigungsprozeß zu setzen, ist keineswegs so unwahrscheinlich, wie es die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse auf den ersten Blick nahelegen. Die Anschlußposition der „Allianz“ muß sich nicht bruchlos in der Parlamentsfraktion wiederfinden. Auch die Rolle der SPD ist in dieser Frage keineswegs entschieden. Um der wachsenden Sensibilität der Bevölkerung für die Gefahren der schnellen, bedingungslosen Einheit werden auch die dominierenden Fraktionen nicht herumkommen.

Erste Aufschlüsse zur Frage der Eigenständigkeit wird der Umgang mit dem am Runden Tisch erarbeiteten Verfassungsentwurf geben, dessen Übergabe an die Volkskammer den eigentlichen inhaltlichen Höhepunkt der konstituierenden Sitzung darstellt. Am Willen, den Entwurf zum Gegenstand der Parlamentsarbeit zu machen, wird sich nicht nur zeigen, wie sich die Volkskammer zum Nachlaß des Runden Tisches verhält; zugleich wird daran deutlich, wie das Parlament - für die Übergangszeit und den Einheitsprozeß - die Rolle der DDR gegenüber der Bundesrepublik definiert. Optimistisch stimmt die Verfechter einer neuen Verfassung, Bündnis 90 und PDS, daß bis zum Schluß Vertreter aller Parteien und Bürgerbewegungen des Runden Tisches an dem Entwurf mitgearbeitet haben. In den Parteivorständen von CDU und SPD wird freilich derzeit noch ein anderer Weg favorisiert. Mit einem Paket verfassungsändernder Gesetze zu Eigentumsfragen, Wirtschaftsordnung und staatlichen Institutionen soll die gültige Verfassung aus der SED-Ära soweit mit den aktuellen Erfordernissen kompatibel gemacht werden, daß sie als Rahmen bis zur Herstellung eines gesamtdeutschen Staates dienen kann. Die Argumente für diesen Weg sind pragmatischer Natur: keine Zeit verlieren mit einer langwierigen Debatte über eine Verfassung, die in dieser Form ohnehin keinen Bestand haben wird.

Während über den Umgang mit dem Verfassungsentwurf nicht in der ersten Sitzung entschieden wird, steht eine Änderungen an der alten Verfassung schon heute auf dem Programm. Der Staatsrat als oberstes Gremium der DDR wird abgeschafft, das Amt eines Präsidenten institutionalisiert. Gewählt wird zudem das Präsidium der Volkskammer. Wie wichtig dieses Gremium im Hinblick auf das zukünftige Selbstverständnis des Parlamentes genommen wird, zeigen schon die Nominierungen von Bündnis 90 und PDS, die mit Wolfgang Ullmann und Hans Modrow ihre profiliertesten Leute aufgestellt haben. Auch die alte Volkskammergeschäftsordnung soll nicht in die neue Ära übernommen werden. Für die Erarbeitung einer neuen Geschäftsordnung wird ein Ausschuß eingesetzt.

Eine herausragende Rolle für das parlamentarische Selbstverständnis wird allerdings der Ausschuß zur Überprüfung möglicher Stasi-Verstrickungen der neuen Abgeordneten spielen. Nachdem der erste Überprüfungsdurchlauf bereits läuft, soll der Ausschuß unklare Fälle klären. Dazu gehört auch die Frage, wie mit solchen Abgeordneten zu verfahren ist, die in ihrer früheren Tätigkeit qua Amt verpflichtet waren, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Das Gremium soll aber über die Abgeordnetenüberprüfung hinaus Kriterien für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Komplex Stasi -Vergangenheit entwickeln. Deshalb und weil die laxere Haltung der anderen Fraktionen in dieser Frage offenkundig ist, fordert das Bündnis eine paritätische Besetzung des Untersuchungsgremiums.

Für die parlamentarische Auseinandersetzung in der neuen Volkskammer verspricht die große Koalition mit verfassungsändernder Mehrheit nichts Gutes. Die Gefahr, daß sich die Fraktionen im Interesse reibungsloser Regierungsarbeit „gegenseitig den Mund zuhalten“ - wie die Bündnisabgeordnete Marianne Birtler formuliert -, ist groß. Doch mit der breiten Regierungsmehrheit wächst möglicherweise auch die Chance eine eigenständigere Rolle gegenüber der Bonner Vormundschaft.

Matthias Geis