Nicht mehr alle Tassen im Behältnismöbel

■ Mit der deutschen Einheit kommt das unaufhaltsame Ende der DDR-Wortgut-Ära: Ein Überblick zum Verlust von Sprache

Meier stellt sein Bierglas auf den Tisch und läßt den Blick über sein Datschen-Grundstück(1) schweifen. Er sieht wehmütig auf die Hartbrandwichtel(2), die er einst über Beziehungen für Forumschecks(3) ergattert hatte. Im Tausch dafür verschaffte er dem ewigen AGLer(4) — „ewig“ wegen seiner Kontakte zum NSW(5) — die aufzugeben er sich weigerte — eine Naßzelle(6). Sein Datschen-Nachbar griff ihm hilfreich unter die Arme, als er dringend einen Schreibcontainer(7) brauchte; seine Tochter wechselte nämlich von der POS auf die EOS(8). Sie wurde übrigens bevorzugt, weil ihr Vater „nicht zur Intelligenz gehörte“(9), sondern Facharbeiter für Be- und Verarbeitung von Körnern und Hülsenfrüchten war(10). Mutter war Mitarbeiter für warenbewegende Prozesse(11).

Die Tochter wurde Bauschaffende(12), befindet sich jedoch zur Zeit im Babyjahr(13). Der Kleine hatte gerade seine sozialistische Namensgebung(14), kommt aber bald in die KiKri(15). Die Ältere besucht schon den KiGa(16) in einer KiKom(17). Vor kurzem bezogen sie eine Drei-Raum-Wohnung, Typ WB 70(18) in einem Neubaugebiet nahe der Protokollstrecke(19). Trotz VMI-Stunden(20) warteten sie auf die Wohnung fünf Jahre in einer sozialistischen Wartegemeinschaft, in einer anderen 14 Jahre auf den Trabant 601. Vater Meier half mit seinen Beziehungen das Wohnzimmer einzurichten: ein Behältnismöbel(21) von Zeutrie(22). Einen Staßfurt Patriot(23) und einen RFT-Rundfunkempfänger(24) hinterließ Oma Meier, die man mit VEB Erdmöbel(25) erst kürzlich zu Grabe getragen hatte. Der Schwiegersohn, ein Stadtbilderklärer(26) bei Jugendtourist(27), verdient gelegentlich zu: als Schallplattenunterhalter(28) in Jugendklubs.

Im Wohnblock — den nur böse Zungen Arbeiter- und Bauern-Schließfächer nennen — fehlt es an nichts: Komplexannahmestelle oder Dienstleistungswürfel(29), Grillettabude(30), Sekundärrohstofferfassungsstelle(31), Getränkestützpunkt(32), Kulturhaus(33), Feierabendheim(34) sind angegliedert, und auch der ABV(35) wohnt im gleichen Aufgang. Vom Wohnzimmerfenster blicken Tochter Meier und Familie auf die Broilerbar(36). Gleich daneben liegt die HO-Kaufhalle(37), über der in großen Leuchtstoff-Buchstaben „Plaste und Elaste aus Schkopau“ prangt. Die Schaufenster des VEB Möbelkombinats sind hauptsächlich mit Beratungsmustern(38) dekoriert. Der Geruch der naheliegenden LPG-Tierproduktion „Rote Rübe“(39) ist unverkennbar. 388 rauhfutterverzehrende Großvieheinheiten(40) weiden auf den Grünflächen. Zweimal im Jahr, wenn Meier seinen Rasen mäht, schafft er ein paar Weichcontainer(41) voll Gras zur LPG.

Bis zur nächsten Rasen-Rasur ist aber noch Zeit, erst am „Tag der Republik“(42) will der Hausherr zur Sense greifen. Heute genehmigt er sich noch ein Gläschen Weinbrandverschnitt und streicht versonnen über seinen Bauch — die Konsumjeans(43) wird immer enger. Das „Schnitzel mit Zigeunermasse“(44) war wohl doch zu reichlich. Seinen guten Silastik-Pullover(45) und die Präsent-20-Hose(46) zieht er aus, sobald er auf die Datsche kommt, denn Frau Meier hegt und pflegt noch immer die 20jährigen, formtreuen Errungenschaften: Die Stoffarten der beiden Kleidungsstücke errangen einst begehrtes Messegold(47). Meier seufzt, die Sommerhitze staut sich unterm Dach aus heimischen Asbestwellplatten(48). Er schlurft zum Fernseher, schaltet die „Aktuelle Kamera“ ein, um beim Bericht über die MMM(49) sanft zu entschlummern. So entgeht ihm das Resumee des Reporters: „Revolutionäres Handeln wird überall und zu jeder Zeit gebraucht, an jedem Platz, an dem gute Taten und bahnbrechende Leistungen für unsere sozialistische Sache vollbracht werden.“(50)

1) Wochenendgrundstück, 2) Gartenzwerge, 3) umgetauschte Westwährung für Intershops, 4) Abteilungsgewerkschaftsleiter, 5) nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet, 6) Dusche, 7) Schreibtisch, 8) Polytechnische Oberschule (Grundschule) und Erweiterte Oberschule (Gymnasium), 9) DDR-Kriterium für Studienzulassung, 10) Müller, 11) Transportarbeiterin, 12) Architektin, 13) bezahlte Freistellung im ersten Jahr der Geburt, 14) Taufe, 15) Kinderkrippe, 16) Kindergarten, 17) Kinderkombination mit KiKri und KiGa, 18) bestimmter DDR-Neubautyp mit Einheitsmaß, 19) besonders gepflegte Fahrtstrecke der Parteiführung, 20) volkswirtschaftliche Masseninitiative (zusätzlicher Arbeitseinsatz), 21) Schrankwand, 22) VEB Möbelkombinat Zeulenroda, 23) DDR-Fernsehmarke, 24) Radio, 25) Sarg, 26) Reiseführer, 27) Reiseunternehmen für Jugendliche bis 30 Jahre, 28) Disk-Jockey, 29) Annahmestelle für Schuster-, Schneider-, Fotoarbeiten etc., 30) Hamburgerbude, 31) Sammelstelle für Lumpen, Flaschen und Papier, 32) Getränkeverkaufsstelle, 33) Freizeittreff, 34) Altenheim, 35) Abschnittsbevollmächtigter (Polizist), 36) Hähnchengrill, 37) Supermarkt, 38) nicht käufliche Ausstellungstücke, 39) landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft mit schillernden Namen, 40) Kühe, 41) Sack, 42) Gründungstag der DDR, 7. Oktober 1949, 43) DDR- Antwort auf Wrangler, Levis 701, 44) O-Ton Mitropa- Speisekarte, 45) Nylon-Pullover, 46) DDR-Erzeugnis zum 20. Jahrestag der Republik, 47) höchste Auszeichnung auf der Leipziger Messe, 48) überall verwendetes Baumaterial, 49) Messe der Meister von Morgen für den Berufsnachwuchs, 50) O-Ton Staatsbürgerkunde-Buch für die 7. Klasse.Bärbel Petersen

Wer die DDR-eigenen Wortprodukte nicht kennt, kann sie hoffentlich bald nachlesen. Das Berliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, dem für seine Hilfe hier gedankt sei, möchte zum Jahresende ein „Wörterbuch der Wende“ herausgeben, sucht aber noch einen Verlag.