: Marx ist nicht nach Feiern zumute
■ »Beim nächsten Mal wird alles besser«, hat ein Optimist auf das Marx-Engels-Denkmal in Ost-Berlin gesprüht/ Die taz besuchte den Philosophen und Ökonomen und fragte ihn selbst
Auf dem Breitscheidplatz, der Dimitroffstraße, in Potsdam, Weimar und im Märkischen Viertel haben sie sich getroffen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx alias Alexander Dill und Willi Czarnetzki. Dill ist Leiter der Westberliner »Philosophischen Praxis«, Czarnetzki Leiter des Französischen Doms und Mitglied der Laientheatergruppe »Maxim Gorki« in Ost-Berlin. Beide waren sie in den Monaten zwischen Mauerfall und Währungsunion in die Rollen und Kostüme der beiden Philosophen geschlüpft, um mit dem Volk in Ost und West über den Alltag, das Geld, die Zukunft und die Notwendigkeit des Denkens in unruhigen Zeiten zu philosophieren. Anläßlich des ersten Jahrestages der Maueröffnung sprach Karl Marx noch einmal mit der taz.
taz: Herr Marx, sind Sie noch überzeugter Marxist?
Marx: Marxist insofern, als daß ich die ursprünglichen Gedanken akzeptiere, aber ich akzeptiere nicht den Marxismus, der in der DDR daraus gemacht worden ist.
Hätten Sie den 9. November 1989 nicht voraussehen müssen?
Eigentlich hätte man ja schon früher drauf kommen müssen, daß das so nicht funktioniert und daß es zu einem Bruch kommen würde — ob nun in Form des 9. November oder anders. Marxismus ist ja zu einem Dogma gemacht worden, was er nicht ist.
Haben Sie bei Ihren jüngsten Auftritten in der Öffentlichkeit nie Angst gehabt, daß sich der Groll der Leute nach vierzig Jahren SED gegen Sie als Person richten könnte?
Diese Gefahr habe ich in Ost-Berlin nicht gesehen, schon eher in West-Berlin. Da habe ich befürchtet, daß einige Randalierer ihre Aggressionen ablassen könnten. Die Stimmung in der ehemaligen DDR kannte ich ja. Der ganze Groll richtete sich eigentlich nicht gegen die Person Marx, sondern gegen diejenigen, die sich als Marxisten ausgegeben und ihn verfälscht haben. In den Diskussionen auf der Straße haben viele Marx zugute gehalten, daß er etwas ganz anderes gewollt hatte. Studenten haben sich bei mir beklagt, daß sie Marx und die Auseinandersetzung mit dem Marxismus an der Universität jetzt schon vermißten, obwohl die früher immer moniert haben, daß außer Marxismus nichts gelehrt würde. Diese Auseinandersetzungen fehlen ihnen jetzt. Und über das, was jetzt an den Universitäten geboten wird, kann man sich geistig ja gar nicht auseinandersetzen. Gehen Sie doch mal in die Bibliotheken. Da werden die Philosophen für Pfennige angeboten. Für zehn Pfennige können Sie da eine Stange Marx und Engels kaufen. Oder die Bücher wandern tonnenweise in den Müll.
Welche Unterschiede haben Sie in den Diskussionen zwischen West- und Ostberlinern festgestellt?
Die Ostberliner haben viel fundierter diskutiert, weil sie einfach mit meinen Werken vertraut sind. Die sind ja von der Schule an damit aufgewachsen. In West-Berlin haben mich viele gar nicht erkannt — denen ist bei dem Namen erst einmal die »Karl-Marx-Straße« eingefallen.
Sie sind, um mal einen unschönen westlichen Begriff zu gebrauchen, im Moment ziemlich »out«. Hoffen Sie auf eine Renaissance Ihrer Werke und Ideen?
Wenn ein bißchen Zeit ins Land gegangen ist, werden die Leute einiges anders sehen und sich zumindest wieder mit mir beschäftigen. Schließlich habe ich Gedanken geäußert, die auch in einer anderen Gesellschaftsform aufgegriffen werden könnten, nicht nur in dem Sozialismus, wie er hier real existiert hat.
Heißt das etwa, daß Sie den Kapitalismus für reformierbar halten?
Nun, vielleicht ist es möglich, im Schoße dieses Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung zu formieren, die allen Beteiligten günstigere Voraussetzungen schafft. Und ich bin überzeugt, daß einige meiner Gedanken in einer nächsten, höheren Gesellschaftsordnung wiederaufgenommen werden. Aber sicher nicht in der Form, wie es in der DDR oder den Ostblockstaaten geschehen ist.
Ist Ihnen heute, ein Jahr nach dem Fall der Mauer, nach Feiern zumute?
Nach lautem Feiern ist mir bestimmt nicht zumute. Ich werde mich hinsetzen und in aller Ruhe ein paar Sachen Revue passieren lassen.
Das Gespräch führte
Andrea Böhm
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