Niemand ist ein Nazi

Augenzeugenberichte 1944 — 1948  ■ Von Elke Schubert

Wenn man sich über die Nachkriegsjahre in Europa informieren will, so muß man bei der Sichtung des Materials aus dieser Zeit auf Enttäuschungen gefaßt sein. Ein großer Teil der Schreibenden scheint sich damit beschäftigt zu haben, die eigene Rolle als Mitläufer oder Kollaborateur zu rechtfertigen. Erschwerend für eine zufriedenstellende Berichterstattung kommen zwei weitere Aspekte hinzu, wie Hans Magnus Enzensberger im Vorwort der Textesammlung Europa in Ruinen schreibt: Die Anstrengung, die für die Sicherstellung des täglichen Bedarfs aufgebraucht werden mußte, ließ keine Zeit für „die Emanzipation zum wohlinformierten Zeitgenossen“. Des weiteren „flohen die Intellektuellen, statt kaltblütig zu konstatieren, was der Fall war, in die Abstraktion. Nach der großen Reportage sucht man vergebens. Dafür findet man neben philosophischen Erörterungen zum Thema der Kollektivschuld endlose Beschwörungen der abendländischen Tradition. Eigentümlich, wie oft von Goethe die Rede ist, vom Humanismus, von der Seinsvergessenheit und vom Gedanken der Freiheit.“ Schriften von Emigranten, die Deutschland nach Kriegsende besuchten oder sich entschlossen zurückzukehren, lassen zwar erhellende Rückschlüsse auf den geistigen Zustand der deutschen Bevölkerung zu, geben aber wenig Auskunft über die europäische Situation.

H.M.Enzensberger hat mit seiner Textesammlung Europa in Ruinen einen Schritt zur Überwindung des Informationsdefizits unternommen, indem er journalistische Arbeiten von amerikanischen Reporterinnen wie Janet Flanner und Martha Gellhorn, Schriftstellern wie Edmund Wilson, Norman Lewis und anderen ausgegraben hat, die „alle in der großen angelsächsischen Tradition der literarischen Reportage“ stehen, „der die Kontinentaleuropäer bis heute nichts entgegenzusetzen haben“ (Enzensberger). Diese Journalisten sind schon gegen Ende des Krieges den siegreichen Armeen der Alliierten durch Polen, Griechenland, Italien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und Holland gefolgt und haben im Auftrag ihrer Zeitungen auch nach Kriegsende europäische Länder in Ost und West besucht. Ihre Berichte sind auffallend subjektiv. Um Ausgewogenheit, wie sie heute von der bundesdeutschen Presse und den öffentlich-rechtlichen Anstalten gepflegt wird, haben sie sich nicht gekümmert. Ihre Abneigung vor allem gegen die Deutschen, die zu Recht als Verursacher der immensen Zerstörung und des Elends in Europa gesehen wurden, ist nicht zu übersehen; aber auch nicht ihre Sympathie beispielsweise für die Einwohner Polens, die ihre nach zwei erfolglosen Aufständen gegen die Nazis systematisch zerstörte Hauptstadt mit primitiven Hilfsmitteln wieder aufbauten.

„Nicht daß sie auf eine höhere Objektivität Anspruch erheben, sondern umgekehrt, daß sie an ihrer radikal subjektiven Perspektive festhalten, macht die Arbeiten der Reporter so aufschlußreich, und zwar auch dort, (...) wo sie sich ins Unrecht setzen. Zu den Kosten der Unmittelbarkeit gehört es, daß man sich, statt über den Dingen zu stehen, von der Umgebung anstecken läßt“ (Enzensberger). So sind die Arbeiten von Martha Gellhorn von einer unverhohlenen Abneigung gegen die Deutschen bestimmt, gerade weil sie sich bemüht hat, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, dabei aber mit einer weitverbreiteten Amnesie konfrontiert wurde: „Niemand ist ein Nazi. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da, 20 Kilometer entfernt, war eine Brutstätte des Kommunismus ... Ich habe sechs Wochen einen Juden versteckt, ich habe acht Wochen einen Juden versteckt ... Man müßte es vertonen, dann könnten die Deutschen diesen Refrain singen, und er wäre noch besser“ (Gellhorn). Während sich die deutschen Truppen geschlagen gaben, wurde die Bevölkerung mit der absurden Parole „Schweigen heißt Sieg“ versorgt, und die Journalisten müssen sich wie Wesen von fernen Galaxien vorgekommen sein. Aber gerade in ihrem Erstaunen haben sie die Gefahren mit fast prophetischer Klarsicht erkannt: „Gefährlich wird es erst, wenn die amerikanische Verwaltung erkennen wird, daß es leichter ist, mit den gehorsamen, unterwürfigen, effizienten deutschen Feinden zurechtzukommen als mit den wirren, individualistischen Franzosen oder den spitzfindigen Belgiern oder den eigensinnigen Holländern“ (Flanner).

Indem die Journalisten Schicksale von einzelnen aufzeichneten und über scheinbar alltägliche Begebenheiten berichteten, haben sie die Folgen eines grausamen Krieges und die daraus resultierende Verstörung der Europäer besser als jede historische oder statistische Untersuchung beschrieben. Das Spektrum der Verhaltensweisen reichte von der ertragreichen Zusammenarbeit der Neapolitaner mit den amerikanischen Befreiern durch Prostitution und regen Schwarzhandel bis zur Irritation polnischer Partisanen, die sich auf die Seite der Alliierten schlugen und einer ungewissen Zukunft ins Auge blickten. Solche Sorgen plagten die deutschen Industriellen nicht, wie die Berichte von R.T. Pell bezeugen. Der begleitete den amerikanischen Geheimdienst bei seiner schwierigen Aufgabe — der Entflechtung von Industrie und NSDAP — und suchte exemplarische „Herrenmenschen“ auf, in deren luxuriösen Landhäusern nichts von den Entbehrungen der Nachkriegszeit zu bemerken war und die ihre Besucher erst einmal eine halbe Stunde warten ließen, bevor sie sich bequemten, auf wichtige Dokumente hinzuweisen, die jetzt leider, leider verschwunden wären. Heute weiß man, daß dieselben Industriellen weiterhin ungebrochen an den Fäden der Macht ziehen konnten und daß die Siegermächte die Entnazifizierungsprozesse eher halbherzig durchführten. Nach der Lektüre der Berichte von J. Flanner (Thyssen) und A.J. Liebling (Prozesse gegen Parteimitglieder) kann man vermuten, daß die Verantwortlichen für Entnazifizierung vor der Selbstherrlichkeit und der Papierflut, die die Angeklagten zu ihrer Entlastung vorlegten, letztendlich kapitulierten.

Ganz anders war die Situation in den zukünftigen Ostblockländern, den eigentlichen Verlierern des Krieges. In den Arbeiten der Journalisten deutet sich schon ihre Zukunft unter neuer Herrschaft an, diesmal der Sowjetunion, denn der Zweite Weltkrieg hatte auch eine Neuverteilung der Macht in Europa zur Folge, die heute erneut zur Disposition steht. Das für 1992 anvisierte Europa ist nach Enzensberger ein künstliches Gebilde, die Widersprüche sind unübersehbar. Ihre Gründe sind in der Nachkriegszeit zu suchen, und das Buch kann wertvolle Hilfe bei ihrer Erforschung leisten. Europa in Ruinen gibt eine Ahnung davon, was guter Journalismus sein kann: Die Widerlegung der Sottise, nach der nichts so alt wie die Zeitung von gestern.

Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948. Eichborn Verlag, 303 S., 36 DM