Völlerei und Hungerblick

■ Exkursion in die Bremer Sommernacht / Bericht aus dem Bauch der Stadt / Szene fest in Diepholzer Hand

Zuviele Wölfe für Carmen: die „Altstadt"

Das Bremer Nachtleben hat mit ebenso vielen wie zähen Vorurteilen zu kämpfen, „ländlich- sittlich“ sagen vorintellektuelle Besserwisser, „kein Sex“ sagen Betriebssportgruppen aus dem Ruhrgebiet, und ganz geschniegelte Weltbürger behaupten: „Non-existent!“ Diese für ein regionales Oberzentrum katastrophale Einschätzung verschärft sich noch, wenn die Rede auf die „Bremer Sommernacht“ kommt. Das Feuilleton

Hier

Puppen mit

„Altstadt"

dieser unserer Heimatzeitung dehnte kurzerhand seinen Kulturbegriff aufs Bremer Sommernachtleben aus, schwärmte aus in den Bauch der Stadt und entdeckte: Diese Nächte sind alles andere als tot. Musik, Sex, Leidenschaft: alles da! Und: Die Nächte sind die Chance für eine Gruppe wenig beachteter Landsleute: den gemeinen Diepholzer, die gemeine Diepholzerin.

Schwarz: Garlstedt; Weiß: Diepholz. Das „Time"Fotos: Bus

Dobben, 23 Uhr 17, 24 Grad im allgegenwärtigen Schatten. Zum Vorchecken der Sachlage halten wir einen Streifenwagen an. Polizeiobermeister (POM) Hubertus Gram (Name v.d.R. geändert) steckt eine häßlich entstellte, pflasterbeklebte Nase aus dem Fenster, die das Schlimmste befürchten läßt. Und richtig: „Die Leute sind bei dem Wetter wie verrückt“, weiß Gram zu berichten, „eben kreuzte einer in Unterhose in der Wache 6 auf,

Hier das

„Time" Bild hin

dann wurden wir wegen eines Falles von Völlerei (alkoholisches Abfüllen zum Ausnehmen) zum Dobbeneck gerufen, dann haben Jugendliche Colabüchsen in die Straßenbahngeleise gelegt.“ Auf diese Weise verpaßte die Besatzung die Fahndung nach einem Spielhallenüberfall. „Sehen Sie Sich die Autokennzeichen an! Alles OL, DEL und DH! Da ist einiges los diese Nacht.“ Das Nasenproblem verharmlost Gram mit Hinweis auf einen hartnäckigen Pickel.

Die ersten Bierchen im Pimm's? Das war doch diese entsetzliche Spelunke im Birkenweg, selbst von Taxifahrern nur unwillig bedient, hier traf sich Grobes und Volles. Heute heißt der Ort des Schreckens Birken-Eck, eine Softversion, die Musikmaschine schwankt zwischen Stones und der Valente, die neue Wirtin Ilse aus dem Hessischen achtet auf Niveau, Diepholzer in Joggingzeug werden grüppchenweise eingelassen. Ab 2 Uhr ist die Reklame aus. Das Sommernachtsleben tobt an der Theke zwischen den Knobelbechern und auf Ilses Bluse: „Caribian Excursion“. Mitternächtens nimmt der fliegende Rosenhändler P. hier seine Cola, der für den kleinstmöglichen Abstand zwischen Kinn und Nase bekannt ist (Feierabend, wenn alle Blumen in Damenhand; maximaler Umsatz 400 DM pro Nacht). Ilses Laden empfiehlt sich unbedingt als Stammkneipe.

In der 6 nach Huchting sitzt ein Japaner. In den Wallanlagen schnattert ein brünftiger Erpel. Ein Einsamer wippt lockend mit weißen Turnschuhen. Jungmänner brüllen aus einem Obergeschoß in der Sögestraße häßliche Worte in die Nacht. Unser Ziel: die Altstadt. Eine ungemein erfolgreiche Einrichtung in einer Nebenstraße der Sögestraße. Bevor er uns ins Gesicht blickt, studiert der Türsteher unsere Füße. Turnschuhverbot! Verzweifelte Diepholzer boten Unbeteiligten schon 40 DM Leihgebühr für Ledertrittchen. Drinnen ein Marktplatzimitat als gehobener Kontakthof mit Giebelhäuschen und funkelndem Sternenhimmel. Die Bude um 1.30 Uhr gerammelt voll. Zu Livemusik von der „Show Gun“ tanzen (Standart) Diepholzerinnen zumeist als Carmen aufgemacht (der Saura-Film scheint dort angelaufen zu sein); die Herren tragen graue Mähne und floral bedruckte Hemden und haben Wolf im Blick. Etwas viel Bauch, man muß an die Großvieheinheiten (GVE) in Diepholz denken. Grassiernder Männermangel. Umso mehr hungrige Blicke, die der Szenerie eine brisante Metaebene verleihen. In der Diepholzer Hochburg (ein Japaner, ein Kegelclub vom Niederrhein) liegen Glanz und Elend nah beieinander.

Die hohlen Gassen der schlafenden Metropole dröhnen von den Klimaanlagen der großen Geschäfte. Die Ampel am Schüsselkorb summt für Blinde. In der 5E zum Hauptbahnhof sitzt der Diepholzer Grobschmied aus der Altstadt — alleingeblieben. Welche Tür ist noch offen? „Satisfaction guaranteed“ verspricht das Time, eine Disco am Rembertiring. Türsteher Quency Brown aus Ghana fischt Türken, die ohne Damenbegleitung eintreten wollen, aus der Gästeschar. „Trouble“. Drinnen herrschen Vollverspiegelung, Bananensaft, schwarzer Rap. Augenscheinlich ist Time vorbehalten für schwarze Jungs und weiße Mädels. Standort der ersteren: Garlstedt; der letzteren, die zu allem Überfluß weiße T-Shirts tragen: (ist das noch eine Überraschung?) Diepholz. Über allem, hinter der Theke, Martin Luther King, der stellvertetend — auch für Diepholz — spricht: „I had a dream.“Bus

PS: Übrigens mündete die Bremer Sommernacht auf geradezu klassische Weise (extrem hoher Wahrscheinlichkeitskoeffizient!): auf dem Nachhauseweg in der Radarfalle.