Das Juckpulver erfunden

■ Butoh-Festival, neueste Lieferung: Carlotta Ikeda mit der Compagnie Ariadone im Schauspielhaus

Gleich anfangs hätten wir Verdacht schöpfen müssen, als sich schwere Nebel von Myrrhe auf uns herniedersenkten. Wer uns einer Aromatherapie unterzieht, nicht wahr, ist noch ganz anderer Erbaulichkeiten fähig. Aber nein, es folgte ein geradezu köstliches Tanztheater: Denken Sie sich sieben weißgekalkte Frauen, wie sie über die Bühne schlurfen, kugeln, platschen, schleifen, zuckeln, und dazu die aberwitzigsten Fratzen schneiden. In all dem hochkonzentrierten Ungestüm sahen wir: Der größte Komiker auf Erden ist der Körper, den man läßt. Die japanische Butoh-Tänzerin Carlotta Ikeda, sonst gerne solo, hier mit der Compagnie „Ariadone“, hat eine ziemlich fröhliche Spielart des Butoh entwickelt, einen Tanz von quasi juckpulvriger Aufgekratztheit. Und ich sage und schreibe Ihnen: Es ist an diesem Sonntag in unserm Schauspielhaus tatsächlich einmal von Herzen gelacht worden.

Und wie war's doch auch lehrreich für uns: eine kleine Geschichte unserer höchstpersönlichen Kinetik, des Faches also, in dem wir aus Gründen am dümmsten sind. Wir sahen, wie alle Bewegung womöglich aus minimalen Reflexen kommt. Da schnellten die Körper über den Boden wie geschwänzte Einzeller; da krallten sich Füße in mindeste Fugen; da klumpten sich Menschenballen zusammen und wußten nicht weiter. Das ist ein Butoh, der anfängt, aus sich heraus zu gehen, die innere paralytische Drohung zu lockern und gar eine Entwicklung zu wagen.

Und plötzlich flog Carlotta Ikeda von seitwärts ein und sauste hin und her und schraubte aus ihrem Körper die sonderbarsten Drehungen, als wäre sie, mit hundert Kardangelenken, ein Parademaschinchen der Spielwerkskunst. Und plötzlich war da ein Trio und klimperte mit himmelschreiender Hingabe auf gewaltigen Luftklavieren. Da schwallte Gegicker aus allen Lautsprechern, und sieben Närrinnen vollführten dazu ein derart beklopptes Gehopse, daß sich endlich das Geheimnis auftat, wie man ohne einen Laut schnattern kann: In diesem Sinne, im Sinne der Ganzkörpermethode, kennt Butoh, so lehrt uns nach und nach das Festival, ohnehin keine Grenzen.

Die Grenze ist heut abend die allen Tanzes. Carlotta Ikeda überschreitet sie und verirrt sich dort, wo die Myrrhe wächst: Zum Ende hin hält man uns doch wieder die große Zeitlupe vors Gesicht, unter der die Bewegungen so langsam, großmächtig und bedeutsam werden; dazu spielt man ein Atmen ein, so episch brandend, daß man's vor Ehrfurcht ins Lateinische übersetzt: als Spiritus Sanctus des Lebens ist aber der Tanz ein bißchen überfordert.

Es endete vollends im Erhabenen; und all die schwer gezügelten Überschwänge, worüber wir uns doch gefreut hatten, waren also nur niedere Stadien gewesen auf irgendeinem Weg hinan, hinan. Das Problem solcher Himmelfahrten ist oft, daß einem nachher umso lieber wird, was man vorher hatte. Selbst die ausführenden Körper erschlappten schließlich im Pathos und tanzten gedankenlos und hatten ein bißchen von der leberwurschtigen Renitenz der Beleidigten. Sie können's einfach nicht, selbst wenn sie wollten. Man wendet allen guten Willen auf sie an und hat alles gerichtet für die Karriere, und doch werden aus spielwütigen Menschenskindern keine Höheren Botschafter. Manfred Dworschak