Wir sind alle Berliner Kindl

■ Die Gewinner dieses Sommers: Brauereien, Eisverkäufer, Kebabbudenbesitzer und Eisbären Die Brauerei »Berliner Kindl« hat den besten Umsatz ihrer 121jährigen Geschichte

Wissenschaftler sind in großer Sorge: Was ist los in der Hauptstadt? Ganz Berlin ist regrediert. Wohin man auch blickt: Kinder, Kinder. Ob auf den Straßen, in den Parks oder Schwimmbädern: Es geht nur noch ums Trinken, Nuckeln, Futtern, gebadet und eingecremt werden. Hattu mal ein Eis? Gibbu mal ein Bier aus? Und abends, wenn die Flaschen leer und die Menschen voll sind, gibt's Geschrei. Der Senat hat bereits, um die letzten Reste der preußischen Arbeitsmoral zu retten, einen Krisenstab einberufen, der sich jedoch dem Vernehmen nach sofort zur ersten Beratung an den Müggelsee abgesetzt hat und erst abends wieder gesehen worden sein soll, wie er bierseelig kichernd Kondome über Autoauspuffrohre zog.

Abgase in Verbindung mit Sonnenbrand und Ozon, das sich mit den durch die Stadt ziehenden Sonnenölschwaden mischt, scheinen heftige Reaktionen in den infantilen Unterschichten der Psyche auszulösen: Back to the roots und up in the windeln heißt die Devise für die sich aalenden, quiekenden und quäkenden Berliner. Aber halt! Es gibt doch noch einige, die einen kühlen Kopf bewahren — schließlich wollen sie Geschäfte machen.

Den hinterhältigsten, weil am besten in die Stimmung passenden Namen hat sich dabei die Berliner Kindl Brauerei ausgedacht. »Bei uns klagt niemand über die Hitze«, kichert einer ihrer Vorstandsmitglieder ins Telefon. »Wir haben im Juni ein Drittel mehr Bier als in einem normalen Sommermonat und so viel wie noch nie in unserer 121jährigen Geschichte verkauft: rund 18 Millionen Liter und ungefähr 10 Millionen allein in Berlin.« Jeder Berliner und jede Berlinerin, vom Säugling bis zum Greis, hat damit umgerechnet 2,7 Liter Berliner Kindl ausgenuckelt — kein Wunder also, daß sie alle kindisch werden.

Aber auch die Eismacher und Eisverkäufer freuen sich an der neuen oralen Triebhaftigkeit, die die erhitzten Hauptstadtbewohner befallen hat. Norbert Hennig, Chef einer Speiseeisfirma, hat letzter Zeit täglich »5.000 bis 6.000 Kugeln« an Einzelkunden und zum Teil auch an Eisdielen verkauft, »40 Prozent mehr als im Vorjahr.« Auf Bestellung produziert er auch Eisbomben für 500 Personen, »die sind so groß, daß sie auf eine Krankenhausbahre passen.«

Die Kreuzberger Kebab- und Gyrosverkäufer profitieren ebenfalls aufs Erklecklichste von der allgemeinen Regression auf die niederen Gelüste des Körpers, die sich abends und nachts noch zu verstärken scheinen, und verdienen sich dünn und dämlich. Ja, dünn: »In den letzten zwei Wochen habe ich fünf Kilo abgenommen, weil ich so viel gearbeitet habe«, sagt ein Libanese. »Ich habe so viel eingenommen, daß ich bald für zwei Monate in den Libanon fahren kann.«

Schmatzen, schlecken, schlucken, schlummern, baden, aalen, dösen — das Verhalten der Berliner Spezies unterbietet im Aggregatzustand der Hitze sogar die Tierwelt. Die Affen im Zoologischen Garten jedenfalls sind weitaus munterer als der glotzend und hechelnd davorstehende Homo sapiens, der, ob dieser tierischen Anmaßung gar niedergeschlagen, sofort eine Bank aufsuchen muß. Die Orang Utans haben einen Höllenspaß daran, die Besucher zu ärgern, indem sie einen Leinensack aus dem Gitter werfen, sich ihn zurückgeben lassen und sofort wieder hinauspfeffern. Die Schimpansen sitzen schmatzend auf dem Gras. Und die Roten Vari aus Madagaskar heben von Zeit zu Zeit mit ihren kreischenden und bellenden Stimmen einen kilometerweit zu hörenden Lärm an, der jeden Biergarten übertönen würde.

Selbst die Pinguine, Robben und Eisbären demonstrieren putzmunter ihre Überlegenheit über die verweichlichten Großstadtbewohner, die weder dem tropischen Klima zu trotzen noch glitschige Fische in einem Happs herunterzuschlingen vermögen. Drei der Eisbären machen sich einen Spaß daraus, durchs Wasser zu sausen und dann zwei Meter hochzuschnellen, um sich ein Efeublatt an der betonierten Wand ihres Swimming Pools zu schnappen. Oder an den Eisbomben zu nuckeln, die ihnen die Pfleger bisweilen reichen: in zwanzig Liter großen Eisbrocken eingefrorene Möhren, Äpfel und Fische. Staunend steht das Publikum und lutscht an seinem Nogger oder Capri. »Mama, der hat gerülpst!«, ruft ein Knirps empört. Aber es war nicht der Bär, sondern der Papa, ebenfalls unheilbar befallen von kindlichen Regressionstendenzen. Ute Scheub