COOPERSTOWN IM INDIAN SUMMER

■ On the road durchs Lederstrumpfland zum Museums-Städtchen am Otsego Lake: Hier wirkten die Schriftsteller James Fenimore und William Cooper, hier wurde der Baseball erfunden

On the road durchs Lederstrumpfland zum Museums-Städtchen am Otsego Lake: Hier wirkten die Schriftsteller James Fenimore und William Cooper, hier wurde der Baseball erfunden

VONMAXIMILIANPFEIFER

Zwei Wege führen nach Cooperstown. Der bequemere kommt von Süden, von New York City. Der zweite ist umständlicher, dafür aber viel schöner. Man nimmt den Umweg über die Niagarafälle, durchkreuzt die Finger Lakes Area, und von dort sind es höchstens noch drei, vier Stunden Fahrt auf dem Highway US 20 und US 28 bis Cooperstown. Der zweite sollte mein Weg sein.

Ich habe immer noch die schönen Seen in upstate New York vor Augen: Keuka Lake, Cayuga Lake, Owasco Lake: Indianerland, also auch Lederstrumpfland. Langsam steuere ich in die prächtige Hügellandschaft, die sich über die ganze Mitte des Staates New York erstreckt. Auf dem Beifahrersitz sitzt Ken, mein rothaariger Freund. Unterwegs auf der Straße, mit zwar vernünftigen, aber auch ermüdenden 35 oder 55 Meilen, geht auch dem Gesprächigsten irgendwann der Stoff aus. Die einfachste Abhilfe: Turn your radio on. Jingles, die neuesten Hits, Commercials. Das gleiche wieder von vorn. Nicht zum Aushalten. Verzweifelt drehen wir abwechselnd am Knopf. Plötzlich ein wohlbekannter Gitarrensound, ein knappes, präzises Intro: Chuck Berry, Maybelline; gleich darauf die Everly Brothers mit Wake up, little Suzie, wake up. Und dann die Beach Boys: Well she got her daddy's car and she's driving to the hamburger stand now. Ken ist mit klassischer Musik aufgewachsen und kann mein begeistertes Mitsingen nicht nachvollziehen. Melodiös seufze ich: Oh, Ken, what you can“, und schweige die nächsten 7,5 Meilen. Ich weiß das deshalb so genau, weil wir gerade das Schild „7,5 miles to Cooperstown“ passiert haben. Links der Straße ein kleines, schmuckes, weiß gestrichenes Holzhaus, mit einer Hollywoodschaukel im nicht eingezäunten Garten, mitten auf dem kurzgeschorenen Rasen ein Maschinengewehr. In dieser Idylle lauschen wir Paul Harvey. Ken kennt ihn nicht. Wer eben nie AFN hört, kennt sich nicht aus in dieser Welt: „Good morning America! In Australien kämpften zwanzig Frauen gegeneinander, weil eine von ihnen 14mal hintereinander im Bingo gewonnen hatte. In Japan wird es so eng, daß schon Friedhofsplätze auf dem Mond vergeben werden. Das Durchschnittseinkommen von Obdachlosen in den USA liegt bei 25.000 Dollar. Have a good day!“ Zum Glück folgen jetzt zweimal die Beatles und die McCoys mit Hang on Sloopy.

Die Nadel, die die Tankfüllung unseres Amischlittens, ein Ford Limited, anzeigt, fällt innerhalb von Minuten ins Bodenlose. An der Tankstelle frage ich: „Is this the right way to Cooperstown?“ „Yeah, you just follow the road another five miles. You'll enjoy it.“ Da man in den USA alles mögliche genießen soll, die morgendliche Tasse Kaffee, den Bagel dazu, die Sonne wie einen Regenschauer, natürlich die Horror- Shows im TV, scheint diese Aufforderung zum Genießen nichts Besonderes zu sein. Als zwei wohlbeleibte Männer in karierten Hemden und blau-weiß gestreiften Baseballmützen sich dem Wunsch anschließen, bin ich doch erstaunt, wie sehr James Fenimore Cooper in seinem Heimatland geschätzt wird. Bei uns gilt er nur als Kinderbuchautor.

Die letzten fünf Meilen sind die längsten der ganzen Reise. Wegen der „rolling hills“. Eine Landschaft zum Fotografieren, mit Panoramablicken über die Wald- und Farmgegend. Weiße Wolken im klaren blauen Himmel, ochsenblutfarbige Scheunen, weiße Farmhäuschen mit dunkel- und hellgrünen Flecken drumherum. An der Stadtgrenze begrüßt uns das Schild: „Cooperstown, New York, Home of the Baseball Hall of Fame.“ Darunter, in kleineren Buchstaben: „The Village of Museums, Fenimore House, The Farmers' Museum.“ Baseball Hall of Fame. Deshalb also dieses auffällige Glitzern, vor allem in den Augen der Männer. „Müssen wir da hin?“ fragt mich Ken etwas mürrisch. „Wenn wir schon mal hier sind. Baseball ist so amerikanisch wie bei uns Apfelkuchen.“

Bevor wir das Reich von „Cool Papa“ Bell, Big Poison und Ducky Wucky betreten — letzterer erzielte übrigens zwei home-runs in einem inning 1936 —, gehen wir zur Willbur National Bank, 1874 erbaut. Drinnen sieht es so aus, als ob niemand überrascht sei, wenn Bonnie und Clyde die Holztür mit den Glasscheiben aufstoßen würden. Ein einziger großer Raum, links einige Schreibtische, rechts zwei überdachte Holztheken, hinter denen sich die Kassierer im Fall eines Falles in Deckung bringen können. In der Mitte des Raumes, freistehend, aus glatten Kacheln errichtet: der riesige Tresor. Zwei schwere Stahltüren sind nur angelehnt. Beide werden mit stählernen Stäben verriegelt. Mit eisernen Rädern wird der Tresor räuberdicht zugeschlossen. „Immer noch im Gebrauch?“ „Yep.“

In der National Baseball Hall of Fame and Museum bläst uns der kühle Wind der Klimaanlage entgegen. Was lernen wir hier? Diskriminierung gab es auch bei den Sportlern. Von den dreißiger Jahren bis in die Fünfziger hinein mußten nichtweiße Pros in den Negro Leagues spielen. Zweitens: Marilyns mittlerer Ehemann hieß mit vollem Namen: Joseph Paul DiMaggio. Und drittens: Baseball wurde hier in Cooperstown erfunden. Und zwar von einem der späteren Helden des Kriegs gegen die Rebellen im Süden. Sein Name: Abner Doubleday. Für zweifelnde Südstaatler ist eine denkwürdige Bildunterschrift mitgeliefert: „In den Herzen aller, die Baseball lieben, lebt die Erinnerung an den Jungen auf der Wiese, wo Baseball erfunden wurde. Und nur Zyniker möchten unbedingt mehr wissen.“

Ich schildere Ken eine zweite Version, die ich bei Buster Keaton gesehen habe. Während der Steinzeit verfolgte ein dicker, grimmiger Kerl steinewerfend Buster und sein Mädel. Buster ergriff einen Stock, den die Studio Props dort zufällig liegengelassen hatten, traf den Stein und jagte ihn zurück. Natürlich traf er den Kopf seines Gegners. Im Geschenke-Shop probiere ich alle Baseballmützen aus, schwanke lange zwischen dem Hat der Baltimore Orioles und dem knallroten der Cincinnati Reds, entscheide mich dann aber für die proletarische Kopfbedeckung der Brooklyn Dogers.

Cooperstown, ein hübsches ruhiges Städtchen am Otsego Lake — wenn nicht gerade Indian Summer ist und alle New Yorker hier oben nachschauen, ob sich die Blätter an den Bäumen wieder genauso verfärben wie im letzten Jahr. Wir haben Glück, James F. Cooper ist nicht umlagert. Ganz in der Nähe der Main Street finden wir ihn, heroisch-nachdenklich auf einem Marmorblock sitzend, mit lässig überschlagenen Beinen. Als ob er im rastlosen Schriftstellerleben ein kleines Päuschen eingelegt hätte. Das macht ihn sympathisch. Wir glauben immer noch, Cooperstown wäre nach diesem Romancier benannt. Weit gefehlt, erklärt man uns im Fenimore House. Zu verdanken habe die Stadt ihren Namen seinem Vater, William Cooper, der einen „Guide in the Wilderness“ verfaßte. Als William mit Sohn Fenimore und der ganzen Familie 1790 hierher zog, war das bestimmt ein Bestseller.

Fenimore House hat einen großen Ballraum im Erdgeschoß. Wir probieren einige Walzerschritte. Weil Ken auf dem glatten Parkett ausrutscht, müssen wir unser Tänzchen abbrechen. Humpelnd folgt er mir in Fenimores Studierzimmer, natürlich nicht sein echtes, dafür vollgestopft mit Memorabilia wie Briefen, Erstausgaben und Familienporträts. Im ganzen Haus verteilt hängen schöne Gemälde des 19. Jahrhunderts aus der New Yorker „Hudson School“. Der Turkey Shot nach einer Szene aus Coopers Roman The Spy, und Landscape Scene from Last of the Mohicans von Thomas Cole, mit gewaltiger Bergkulisse und winzigen Indianern. Ken setzt sich auf eine Steinbank der Veranda des Herrenhauses, von der eine imposante Ahornallee geradewegs zum See führt. Er sieht aus, als warte er auf ein Kanu mit Häuptling Chingachgook, der ihn zur „Natty Bumppo“-Höhle entführt?

Ich spaziere durch den Park zu einer großen Scheune, die als Eingangshalle des Farmer's Museum genutzt wird. Ein Freilichtmuseum, ein ideales Siedlerdorf. So muß Cooperstown zur Zeit von Leatherstocking ausgesehen haben, als er auch diesem Landstrich enttäuscht den Rücken kehrte, da nun selbst hier die Zivilisation ihren Einzug gehalten hatte. In der Schmiede hämmern zwei Burschen Nägel platt, nebenan im Hotel zerstößt eine Frau Kaffeebohnen, im offenen Kamin wird Wasser zum Übergießen heiß gemacht. Und im Druckerladen druckt ein älterer Mann mit der Hand ein Pamphlet gegen Alkoholismus nach, ein Flugblatt von 1838.

Ken hat bei dem Anti-Alkoholismus-Flugblatt plötzlich die gleiche Eingebung wie ich gehabt. Welch ein Schrecken, als unser Ford kurz hinter Cooperstown von einem State Trooper gestoppt wird. Breitrandiger Hut, tief ins Gesicht geschoben, lässig baumelnder Colt am Hosenbund: „Seen our convict around?“ „No, sir!“ versichern wir, nein, wir haben keine verdächtige Person beobachtet, keinen geflohenen Sträfling herumlungern sehen. „Hoffentlich hat er Vater Coopers Guide in the Wilderness aus der Gefängnisbibliothek mitgehen lassen“, sagt Ken einfühlsam. „Und diese Augen!“ Das Gesicht auf dem Fahndungsfoto hat ihm mächtig Eindruck gemacht. In leicht angespannter Atmosphäre fahren wir weiter, immer am bewaldeten Ufer des Glimmer Lake entlang, in die Nacht hinein. Drei Stunden später erreichen wir das taghell erleuchtete Manhattan.