Warten auf die »Ernte '92«

■ Noch nie wurden in das selbstgezogene Marihuana so große Hoffnungen gesetzt wie in diesem Jahrhundertsommer/ Plätzchen in Waldlichtungen und zwischen Blumen des Arbeitgebers

Zu viel Sonne, zu wenig Regen — der Sommer '92 hat der Landwirtschaft schwer zu schaffen gemacht. Eine ganz besondere Spezies Landwirte konnte von der trockenen Hitze allerdings profitieren: die Hanfbauern. Denn in der diesjährigen Hitzewelle gedeiht Marihuana auch in unseren Breitengraden prächtig — wenn auch noch immer nicht so prima wie in Indien, Nepal oder im Kongo. Doch wenn die Hobbygärtner im September die illegale Ernte einfahren werden, wird das kaum zu einem Überangebot auf dem Berliner »Gras-Markt« führen. Der deutsche Anteil getrockneten Hanfs wird ausgesprochen gering bleiben, weil sich der Anbau von Cannabis in der gemäßigten Zone nicht lohnt. Das Harz der importierten Ware aus Asien und Lateinamerika ist eindeutig von besserer Qualität — es enthält mehr »turnendes« Tetrahydrocannabinol (THC). Darüber sind sich alle Konsumenten einig.

Das mag auch der Grund dafür sein, daß es in Berlin und Brandenburg offenbar keine Cannabis-Pflanzer gibt, die von ihrem heimlichen Geschäft leben. Wer den Samen der Pflanze mit den siebenfingrigen Blättern aussät, macht das eher als Hobby — wie beispielsweise der 50jährige Otto Selke* aus Wilmersdorf. Im vergangenen Jahr hatte der Tischler in einer Lichtung in einem Brandenburger Wald asiatische Setzlinge gepflanzt. Doch die Pflege gestaltete sich recht aufwendig. Denn in den subtropischen und tropischen Herkunftsländern tobt während der ersten zwei bis vier Monate Wachstumsperiode die Regenzeit.

Selke mußte also des öfteren mit der Gießkanne in der Hand zur besagten Waldlichtung fahren und den Durst seiner Lieblinge löschen. Im Juni — als sich der Hobby-Hanfbauer sich nicht mehr um die Tränke zu kümmern brauchte — begann dann »das Problem mit dem Unkraut«. Das habe sich schneller ausgebreitet als der Hanf. Jetzt mußte Selke mit Hacke und Schaufel hinaus zur fernen Lichtung. Über die Ernte war er zwar sehr erfreut, denn die Qualität von Gras aus »Bodenhaltung« sei um vieles besser als die aus Blumentöpfen. Doch das Ergebnis rechtfertigte den Aufwand nicht — Selkes Ernte '92 wächst wieder auf seiner Fensterbank im Hinterhaus.

Gerhard Morgenroth* aus Reinickendorf — er zieht seit 15 Jahren Hanfgewächse — war da schlauer. Er arbeitet in einem kleinen Betrieb im Bezirk Pankow und pflanzte seine Setzlinge in die Rabatten vor die Fenster der Werkstätte seines Arbeitgebers. »Hier kennt das Gras keiner«, glaubt der 32jährige. »Die Saat kommt gut.« Zehn weibliche Pflanzen — nur sie harzen und enthalten folglich die Droge — seien »kräftig« gediehen, zur Zeit 1,50 Meter hoch und würden »gut« riechen. Über die Möglichkeit der freien Aussaat ins Erdreich freut sich Morgenroth besonders. Denn er mußte sein Rauschgift bisher mangels Anbaufläche in der Abstellkammer seiner Wohnung produzieren. Unter dem künstlichen UV-Licht wuchsen die Pflanzen schnell, turnten beim späteren Rauchen aber nur schlecht.

Die sonnigen Hinterhöfe von Werkstätten scheinen sich ohnehin besonderer Beliebtheit zu erfreuen. So hat beispielsweise Ilona Krüger* (39), Telefonistin eines Charlottenburger Dienstleistungsbetriebes, ihre Pflänzchen zu den Benjamins und Begonien auf die Hinterhofterrasse gestellt. Wenn der Hausmeister abends das Grün auf der Terrasse mit dem Gartenschlauch sprengt, bekommt ihr Topf immer etwas ab — optimale Wachstumsbedingungen. Krügers einzige Angst: Manche ihrer Kollegen mit »Kreuzberger Sozialisation« rauchten gerne mal einen Stick. Noch fehlt zwar an dem 1,20-Meter-Büschchen kein Blatt, aber manchem Kenner habe sie schon sagen müssen: »Hände weg.« Sie bestätigt, daß die Ernte '92 besser wachse als jemals zuvor. Ob und wie kräftig sie »reinhauen« wird, habe sie aber noch nicht getestet.

Aber auch in diesem Jahrhundertsommer bleibt der Anbau in den eigenen vier Wänden und auf Balkonien die beliebteste Methode. Stefan Schrader*, 26 Jahre, arbeitslos, hat seine neun Pflanzen im zweiten Stock einer stark befahrenen Straße in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Zoo aufgezogen. Und auch im Ostteil der Stadt, in dem die Selbstversorgung mit weichen Drogen zu DDR-Zeiten nicht so populär war, macht sich Cannabis auf Fensterbänken breit. Auf einem Hinterhof in einem Innenstadtbezirk fallen Blumentöpfe in den Fenstern im ersten und dritten Stock besonders auf, weil sie die einzigen Pflanzen überhaupt sind — und das bei 168 Hinterhof- Zimmern.

Ob und wie erfolgreich die Ernte '92 gelingt, ist im August noch nicht abzuschätzen. Die Erwartungen waren aber lange nicht mehr so hoch wie in diesem Jahr. Egal wen man fragt, alle glauben, daß in Berlin mehr THC-haltiger Cannabis geerntet werden wird als jemals zuvor. Da könnte nur noch die Polizei dazwischenfunken und die gehegten Stengel aus Töpfen, Rabatten oder dem Waldboden rupfen.

Doch die Kollegen, egal ob in Grün oder Zivil, scheinen kein sonderlich gesteigertes Interesse an einer Strafverfolgung der Hobbybotaniker zu haben. So wurde eine Wohngemeinschaft von Kriminalbeamten bei einer Durchsuchung beiläufig aufgefordert: »Ihre Pflanzen verbrennen sie aber.« Natürlich, das tun wir immer«, habe man den Fahndern geantwortet, berichtet einer der Bewohner. Die Beamten hätten sich mit der Antwort zufriedengegeben. Dirk Wildt

*Namen von der Redaktion geändert