Die deutsche Lesart

Vorläufige Bemerkungen über Krieg und Medien am Beispiel der bosnischen Tragödie  ■ Von Peter Glotz

Anfang der siebziger Jahre entstand die Hypothese, daß schon die technische Entwicklung der modernen Medien Krieg und Diktatur erschwerten. Hatte der Vietnamkrieg nicht erwiesen, daß die durch das Fernsehen erzeugte tägliche Präsenz des Todes die Kriegsbereitschaft der Massen unterminierte? Zerstörte die wachsende Vielfalt von Sendern, Speichermedien und Kopierverfahren nicht die Chance von Regierungsapparaten, die öffentliche Meinung zu manipulieren? Was für eine sympathische, plausible Annahme. Leider wissen wir inzwischen: Sie war falsch.

Der Golfkrieg hat gezeigt, daß auch der liberale Staat die aufklärerische Komponente moderner Medien neutralisieren kann; der Pool-Journalismus der amerikanischen Militärzensur präsentierte einen keimfreien Technokrieg ohne Tote. Auch ohne die Gleichschaltungsmethoden zentral geleiteter Kommunikationssysteme wurde erreicht, daß von rund 125.000 Kriegsopfern, darunter vielen Zivilisten, in den Medien der westlichen Industriegesellschaften höchst selten die Rede war.

Aktionen vor laufender Kamera

Gleichzeitig führten die reformkommunistischen Technokraten um Illiescu in Rumänien vor, wie man einen höchst begrenzten Elitewechsel als demokratische Revolution darstellen kann. Die Aktionen vor laufender Kamera, der gezielte Einsatz von „Amteurfilmen“ (Ceaucescu- Prozeß), die geradezu genialische Verwendung gestellter Fotografien höchst realer Folterszenarieren machte deutlich, daß es auch am Ende des 20. Jahrhunderts möglich ist, über Wochen und Monate die ganze, vielkanalige Apparatur der „Weltmeinung“ zu täuschen.

Inzwischen zeigen die jugoslawischen Kriege, sogar, daß die sogenannte „Weltöffentlichkeit“ trotz Satellitenfernsehen, global tätigen Nachrichtenagenturen und grenzüberschreitenden Medien offensichtlich eine Schimähre ist. In Deutschland, Österreich und Ungarn wird seit Monaten — und in eklatantem Gegensatz zur übrigen Welt — ein geradezu klassischer Ethnokonflikt in einer Völkermischzone als Angriffskrieg zwischen Staaten interpretiert. Das Faszinierende — und Erschreckende — an diesem Tatbestand ist nun, daß die Implantierung dieser Interpretationsfolie — vom Ungarn des Ministerpräsidenten Antall abgesehen, in dem die Regierung die Medien gängelt — ohne jede Einschränkung demokratischer Prozeduren gelingt. Auch offene Kommunikationswege können also, und zwar unter den Bedingungen eines deregulierten, globalisierten und privatisierten Medienmarktes, abgeschottet, „eingestellt“ und einigermaßen auf Linie gebracht werden.

Mörderische Auseinandersetzungen

Bei der Analyse dieses Tatbestandes geht es nicht um die — legitimen — Differenzen bei der Wertung der mörderischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Man kann der Auffassung sein, daß die serbische Führung nicht nur nationalistisch, sondern immer noch „kommunistisch“ sei. Man kann zu dem Ergebnis kommen, daß die Serben größere Schuld an den kriegerischen Verwicklungen tragen als die anderen Volksgruppen.

Nur erklären all diese Wertungen nicht, wieso in einem offenen Kommunikationssystem wie dem der Bundesrepublik eine Fülle von Informationen höchst einvernehmlich — und mit nur wenigen Durchbrechungen — nicht oder nur marginalisiert vermittelt werden. Wie kommt es in einem unbestreitbar freien Land, in dem über die meisten Fragen kontrovers informiert wird, gerade bei der Jugoslawien-Berichterstattung zu einer fast ehern durchgehaltenen nachrichtenpolitischen Linie?

Warum gibt es, zum Beispiel, in der deutschen Öffentlichkeit kaum systematische Auswertungen der (meist wöchentlich abgegebenen) Berichte des Generalsekretärs der UNO zum bosnischen Krieg? Warum werden die Dokumente des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nur so selten nüchtern zitiert? Man würde dann über die Untaten der Söldner des kroatischen Nationalistenführers Paraga genauso berichten müssen wie über die Verbrechen, die die Leute des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzik auf sich geladen haben. Man müßte dann nicht nur über die Lager der Serben schreiben — man müßte der deutschen Öffentlichkeit auch sagen, daß es Tausende Muslime gibt, die sich vor kroatischer Verfolgung nach Serbien geflüchtet haben. Das Ergebnis wäre vermutlich eine ganz andere Tonart.

Die Meldungen über serbische „Konzentrationslager“ — es gibt kaum Zweifel, daß es sowohl in serbischen wie kroatischen Lagern Aufseher vom Typ bestimmter KZ- Wächter und brutalen Hunger gibt — könnten dann so überschrieben werden wie am 8. August in der Neuen Zürcher Zeitung: „Wenig erhärtete Fakten über Gefangenenlager in Jugoslawien“. Entsprechende Überschriften in Deutschland heißen aber eher: „Unterhalten Serben Vernichtungslager?“ (Welt, 6.8.) und zitieren dann breit „Augenzeugenberichte“ von Zeugen mit Namen, ohne Namen und abgekürzten Decknamen.

Natürlich kann man historische, religiöse und politische Gründe für eine prinzipiell prokroatische und antiserbische Haltung von Deutschen, Österreichern und Ungarn finden. Das katholische Kroatien war über Jahrhunderte Teil der „Mittelmächte“, während der Nationalismus der orthodoxen Großserben sich direkt gegen diese Mittelmächte richtete, seit 1903 auch mit terroristischen Methoden. Auch im Zweiten Weltkrieg standen die Kroaten auf der „richtigen“ Seite; Hitler schuf sich sogar einen faschistischen Satrapen-Staat in Kroatien. Man muß nur fragen: Sind wir schon wieder so weit, daß die Orientierungsmuster aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Bündnispolitik der zweiten Hälfte verdrängen? Ist die Tatsache, daß das Frankreich des Präsidenten Poincaré und das England von Lloyd George als Schutzmächte Serbiens wirkten, schon wieder gegenwärtiger als die Accolade zwischen Adenauer und de Gaulle im Dom von Reims?

Oder wie ist es sonst zu erklären, daß ein Mann wie Peter Carrington, bis vor kurzem ein hoch angesehener britischer Außenminister und Generalsekretär der Nato, von vielen deutschen Blättern inzwischen behandelt wird wie ein seniler Trottel? Wie kommt es, daß die Deutschen den autoritären Nationalismus des Serben Slobodan Milosewicz (zu Recht) scharf kritisieren, während sie den autoritären Nationalismus des Kroaten Franjo Tudjman in mildem Licht weichzeichnen? Tudjman hat die Oppositionsparteien bei der letzten Wahl mit skandalösen Fristen geschurigelt und das Wahlrecht der (häufig rechtsradikalen) Emigration in einer Weise überdehnt, daß man mit gutem Grund von manipulierten Wahlen sprechen kann; im europäischen Parlament ist das Notwendige dazu gesagt worden.

Lohnendes Thema für junge Löwen

Aber wo standen diese facts in der deutschen Presse? An welcher Stelle erfährt man, wenn heute vom Bündnis der Kroaten mit den Muslimen die Rede ist, von der Tatsache, daß Tudjman und Milosewicz eine Zeit lang kurz davor waren, Bosnien untereinander aufzuteilen? Und wieso hat sich der berühmte „investigative“ Journalismus unseres Landes noch nicht der Frage angenommen, über welche Kanäle Waffen (zum Beispiel Waffen aus der ehemaligen DDR) in die Hände kroatischer Freischärler gelangt sind? Neben der umfassenden Information über die Reiseabrechnungen Lothar Späths und die Gehaltszettel Oskar Lafontaines wäre das doch auch einmal ein lohnendes Thema für die jungen Löwen des deutschen Journalismus.

Kein Zweifel: Die Nachrichtenlage im zerfallenen Jugoslawien ist kompliziert. Spätestens seit der dramatischen Wende, die die deutsche Außenpolitik bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vollzogen hat, sind serbische Quellen für Deutsche nicht leicht zu erschließen. Die Berichterstattung in einem Krieg, in dem neben regulären Truppen Freischärler und Banden einen gnadenlosen Kampf kämpfen, ist gefährlich; das hat schon früh der Tod Egon Scotlands, eines Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, gezeigt. Inzwischen sind in den jugoslawischen Kriegen 37 Journalisten umgekommen. Auch arbeiten alle Seiten mit klassischer Greuelpropaganda über den jeweiligen Gegner.

Nur: Wieso hat diese Situation den deutschen Journalismus so wenig herausgefordert? Wo war in diesem schrecklichen Krieg der Peter Arnett der Deutschen, der auch einmal die Konter-Informationen ans Tageslicht bringt? Wo waren die großen Haudegen, die mit allen Wassern gewaschenen Kriegskorrespondenten, die sonst doch ganz gern vor dem Fly away im Fernsehbild auftauchen?

Eine Art Kriegsstimmung in Deutschland

Man darf nicht ungerecht sein? Da und dort wird die große Erzählung von den kroatischen Engeln und den serbischen Teufeln durchaus durchbrochen. Gelegentlich gibt es eine Eigenrecherche in der Frankfurter Rundschau, einen mazedonischen oder serbischen Querschläger oder einen Korrespondentenbericht in der taz, eine merkwürdig aus dem Rahmen fallende Einzelinformation bei den Auslandsnachrichten der Süddeutschen. Im großen und ganzen aber dominiert die deutsche Lesart: Auf dem Balkan geht es nicht um die mörderische Auseinandersetzung von Nationalismen, die alte Rechnungen miteinander begleichen; auf dem Balkan findet der Befreiungskampf unterdrückter (und im Fall von Slowenen und Kroaten zu unserem Kulturkreis gehörender) Völker gegen den großserbischen (slawischen) Chauvinismus statt. Nur die Prägekraft dieser Formel erklärt die geradezu atemberaubende Geschwindigkeit, in der in Deutschland erstmals seit 1945 wieder eine Art Kriegsstimmung erzeugt werden konnte; nicht im Volk, wohl aber in einem Teil der politischen Klasse.

Hier muß nun endlich das „Verdienst“ eines einzigen Mannes gewürdigt werden: Johann Georg Reißmüller, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat bei der Jugoslawien-Berichterstattung der deutschen Publizistik eine Führungsleistung erbracht, die man kaum überbewerten kann. Die Artikel, die er seit Beginn der jugoslawischen Krise auf Seite 1 seines Blattes zu diesem und nur zu diesem Thema verfaßt hat, sind schon allein physisch eine beachtliche Leistung. Reißmüller hat, ohne Schnörkel, den Grundsatz, daß die Deutschen keine Waffen in Spannungsgebiete liefern, bekämpft, er trat für Waffenlieferungen an Kroatien ein, später auch ohne Wenn und Aber für eine militärische Intervention gegen Serbien.

Seine Hauptleistung liegt aber ohne Zweifel beim Aufbau eines klaren Feindbildes: Die (von Serbien) „gemarterten Völker“, der „serbische Völkermord“, die „säkuläre Untat“, die Gegenüberstellung von Serben und „zivilisierter Welt“. Das ist Arbeit der Zuspitzung im besten Sinn. Wenn künftig Beispiele für die direkte Beeinflussung der Politik durch Publizistik gesucht werden, wird man ohne Zögern Johann Georg Reißmüller nennen dürfen: das deutsche Drängen auf eine frühzeitige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens wäre ohne ihn nicht zustandegekommen. Die Deutschen sind heute in Teilen des Balkans wieder das beliebteste, in anderen Teilen das verhaßteste Volk Europas. Ein einzelner Journalist, eben Johann Georg Reißmüller, hat seinen Anteil daran.

Die deutsche Publizistik muß lernen

Das Fazit? Die deutsche Publizistik muß aus dem jugoslawischen Exempel lernen. Europa dürfte vor einer Fülle „kleiner Kriege“ stehen — einer häßlichen Abfolge grausamer ethnischer Konflikte, bei denen immer wieder innerstaatliche Deportationen, Vertreibungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar Völkermord vorkommen werden. Die Parteien in diesen Kriegen werden mit systematischen Desinformationen arbeiten; die Zeit der (kleinen) Goebbels und Münzenbergs ist leider nicht vorbei, sie ist 1989 wieder angebrochen. Ein schreckliches Beispiel bietet schon heute der Machtkampf zwischen Schewardnadse und Gamsachurdia in Georgien.

Wenn Deutschland politisch gut beraten ist, strebt es bei der Behandlung dieser unvermeidlichen Verwicklungen keine „Führungsrolle“ an, sondern agiert als gesprächsfähiger Partner in der Europäischen Gemeinschaft. Die Voraussetzung für eine solche Politik ist eine skrupulöse, möglichst umfassende, vollständige, vorsichtige und faire Berichterstattung. Die Vorbilder wären die BBC oder die NZZ. Nur ein kommunikatives Selbstverständnis des deutschen Journalismus — und nicht schneidige Gesinnungspublizistik — können Deutschland davor bewahren, in die Rolle der überanstrengten, mißtrauisch beäugten, von Neurosen geplagten und gefürchteten Mittelmacht zurückzufallen. Die Verantwortung der „Merker“ ist nicht viel geringer als die der „Täter“.

Der Autor ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages für die SPD.