SOMNAMBOULEVARD — LUZIDE IN THE SKY Von Micky Remann

Während ich mich in meinem Traumkörper so hin- und herwälze, fällt mir ein, daß wohl allmählich eine Begriffsklärung angesagt ist. Einerseits nur so, andererseits zur Erleichterung aller Neuankömmlinge, die sich keinen Reim darauf machen können, wieso einer — ich, um genau zu sein — jede Woche eine Live-Sendung aus dem Traumzustand abliefern kann. Was also sind luzide Träume, und wie werden sie von der Wissenschaft definiert?

Luzide Träume (Klarträume, lucid dreams) treten sowohl spontan als auch als Folge bewußter Induktion auf. Obwohl ihr Potential, ihr erkenntnistheoretischer Status und insbesondere ihre Bedeutung für die Philosophie des Geistes noch weitgehend unerforscht sind, steht fest, daß sie die sechs Kriterien des folgenden Minimalkatalogs erfüllen müssen:

a)Der Träumer ist sich vollständig darüber im klaren, daß er träumt. Er weiß, daß er sich in einem Klartraum befindet, und ist in der Lage, sich diese Eigenschaft selbst zuzuschreiben.

b)Der Bewußtseinszustand des Träumers ist in keiner Weise eingetrübt. Die allgemeine Bewußtseinsklarheit liegt mindestens auf dem Niveau des normalen Wachzustandes, nicht selten jedoch darüber („high dreams“).

c)Alle fünf Sinne funktionieren dem subjektiven Erleben nach genausogut wie im Wachzustand.

d)Es existiert eine uneingeschränkte Erinnerung an das bisherige Wach- und Klartraumerleben. Es gibt keine asymmetrischen Amnesien wie in manchen Fällen multipler Persönlichkeiten.

e)Es ist ein klares Bewußtsein der eigenen Entscheidungsfreiheit vorhanden.

f)Möglicherweise ist der Träumer auch eine Träumerin oder entscheidet sich im Klartraum, eine solche zu werden.

So. Das wär's auch schon an der Definitionsfront. Wobei sich die epochale Frage anschließt: Wenn mir im Traum all die Sinnesfunktionen bewußt zur Verfügung stehen, die ich auch habe, wenn ich wach bin, welchen Unterschied macht es dann, ob ich wache oder träume? Anders gefragt: Bist Du jetzt im Augenblick wach? Und bist Du Dir da ganz sicher? Es könnte ja sein, daß Du jetzt den subjektiven Eindruck hast, eine Kolumne auf der letzten Seite der taz zu lesen, weil Du das alles träumst. Mal ehrlich: Würdest Du in einer nichtsomnambulen taz einen so somnambulen Text wie diesen erwarten? Na also! Für die Möglichkeit, daß Du träumst, während Du dies liest, spricht immerhin, daß ich ja auch träume, während ich es schreibe, wobei alle Versuche, das Gegenteil zu beweisen, bei mir sofort auf Grundeis laufen. Vermutlich sind wir beide Teilhaber an derselben illusionären Übereinkunft, dem Gefühl von Kohärenz und Vollständigkeit der Welt. Wer sagt, das sei auf den Wachzustand beschränkt? Auf die Frage, welches unser größter Fehler sei, sagte ein Sufi-Meister: „Zu glauben, daß wir leben, wo wir lediglich im Wartesaal des Lebens eingeschlafen sind.“ Im Schlaf läßt sich ebenso gut einschlafen — oder aufwachen — wie im wachen.