Asyl:Hauen und Stechen im Senat

■ Neue Flüchtlingsunterkünfte nur knapp beschlossen / Derweil lehnt Hamburgs SPD-Spitze Grundgesetzattacke ab

/ Derweil lehnt Hamburgs SPD-Spitze Grundgesetzattacke ab

Um Haaresbreite schrammte der Hamburger Senat gestern am kollektiven Blackout vorbei: Nur mit knappster Mehrheit erhielt die Sozialbehörde in der Senatssitzung die Erlaubnis, ihre gesetzlichen Verpflichtungen weiter zu erfüllen. Zuvor war Bürgermeister Henning Voscherau der Kragen geplatzt: Aufgrund der neuesten Asylbewerberzahlen hatte Senator Ortwin Runde eine Aufstockung des Flüchtlings-Notprogramms um weitere 1300 Plätze gefordert.

Erst vor knapp zwei Monaten hatte Runde das Programm für die Errichtung von Containerdörfern für 1000 AsylbewerberInnen in der ganzen Stadt auflegen müssen. Doch jetzt offenbarten die aktuellen Zahlen, daß immer noch monatlich 1000 Plätze fehlen. Für die Sozialverwaltung ein klarer Fall: Gesetzliche Verpflichtungen (Verhinderung von Obdachlosigkeit) erfordern weitere Beschlüsse.

Doch der wochenlange SPD- Streit um die zukünftige Linie in der Asylpolitik hat auch im Senat zur partiellen Taubheit für rationale Argumente geführt. So drohte Voscherau gestern offen, seine Stimme für das Notprogramm zu verweigern, und versuchte sogar, seine Zustimmung an eine Unterstützung für eine Grundgesetzänderung zu koppeln. Schließlich wurde die Schaffung der erforderlichen Kapazitäten mit nur einer Stimme Mehrheit entschieden. Jetzt sollen in den nächsten zwei Monaten Unterbringungsmöglichkeiten für 600

1Menschen auf städtischen Krankenhausflächen entstehen, weitere 700 Flüchtlinge werden auf alle Bezirke verteilt. In einem Gebäude in der Wandsbeker Graf-Goltz-Kaserne können nochmals 160 Menschen aufgenommen werden.

Voscheraus Ausbruch kam für Insider nicht unerwartet. Hatte er doch just am Vortag bei der Sitzung des SPD-Landesvorstandes eine bittere Abfuhr kassiert. Nach teilweise erregter fast vierstündiger Debatte hatte sich das oberste Partei-Gremium am Montagabend auf kollektive Beschlußlosigkeit geeinigt. Sichtlich zufrieden meldete anschließend ein Exponent des linken Flügels: „Voscherau und Elste hätten etwas auf die Mütze bekommen, wenn sie auf einem Beschluß bestanden hätten.“ Im Klartext: Die Mehrheit des Vorstands verweigerte Stadtchef Voscherau und Fraktionschef Günter Elste die Gefolgschaft in Sachen Änderung des Grundgesetzartikels 16. Damit wird sich Hamburgs SPD am kommenden Montag ohne den üblichen Leitantrag des Landesvorstandes in ihren außerordentlichen Parteitag zum Thema Asyl stürzen.

Der Grund: Die Mehrheit aus Traditionslinken und coolen Modernisierern will Voscherau und Elste gegenwärtig nicht schlachten. Die Vehemenz, mit der sich die beiden in den vergangenen Wochen unter das sinkende Banner Engholms stellten, hatte bei vielen führenden SozialdemokratInnen Verwunderung ausgelöst. Schließlich

1hatten sich Hamburgs Sozis bereits auf dem Parteitag am 8.Mai schützend zwischen Voscherau und das Grundgesetz gestellt.

Voscherau verwies dagegen auf die Stimmungslage an der Parteibasis, die sich von der auf Funktionärsebene deutlich unterscheide. Voscherau als Sachwalter des gesunden Parteiempfindens? Mancher Teilnehmer der Runde sah es anders und witterte ein Stück hochprivater Lebensplanung: Björn Engholm möchte gerne Bundeskanzler werden. Henning Voscherau möchte gerne Bundesinnenminister unter Engholm werden. Und Günter Elste möchte zunächst zügig Senator werden und 1994 Voscherau auf dem Bürgermeistersessel beerben. Das verbindet — und erklärt manchen Eifer.

Mit sehr viel mehr Gelassenheit geht die Zweckkoalition von Linken und Erneuerern an das Asylthema. Nicht, wie der Spiegel jetzt vermutete, weil diese Sozis endlich mal wieder nach einem moralischen Herzensbekenntnis lechzen. Die Gemengelage von europäischer Integration, Grundgesetzbuchstaben und Einwanderungsrealität wird durch Engholms Petersberger Vorlage überhaupt nicht adäquat gelöst. Artikel 16 im Engholmschen Sinne aufzuweichen, macht nämlich nur dann praktischen Sinn, wenn gleichzeitig Artikel 19 Absatz 4 gestrichen wird — einer der Eckpfeiler unseres Grundgesetzes, die Rechtswegegarantie.

Diese grundsätzlichen Sachbedenken haben den Juristen und Ex- Parteichef Hans-Jochen Vogel denn auch bewogen, sich an die Spitze der Anti-Petersberger zu stellen. Nun liegt aber Vogel nichts ferner, als Engholm zu kippen. Er arbeitet deshalb gegenwärtig an einem raffinierten Kompromißpapier, das eine Niederlage Engholms auf dem SPD- Bundesparteitag verhindern soll. Der Artikel 16 soll ergänzt, aber im Kern unangetastet bleiben. So könnten die Petersberger Beschlüsse durch kleine Korrekturen in ihr Gegenteil verkehrt, Engholm aber nach außen gerettet werden.

Hamburgs Linke und Erneuerer steuern denselben Kurs. Ihre Marschroute für den Landesparteitag: einige klarstellende Zusätze zu den Petersberger Beschlüssen, die deren Intention ins Gegenteil verkehren. So könnte Voscherau trotz einer Sachniederlage nach außen das Gesicht wahren. sako/fm