„Der Senat ist nicht unfähig, sondern unwillig“

■ Die Kreuzberger Sozialstadträtin Junge-Reyer zum Problem Waterloo-Ufer

Kreuzberg. Jede Nacht – und dies seit Ende September – das gleiche Bild: Hunderte von Kriegsflüchtlinge stehen am Waterloo- Ufer und warten darauf, am nächsten Morgen zur Ausländerbehörde vorgelassen zu werden. Für 8.000 Flüchtlinge sind die Aufenthaltsbescheinigungen zu verlängern, pro Tag werden nur etwa 350 Anträge bearbeitet. Gestern Nacht drängelten sich gegen ein Uhr bereits über hundert Menschen in die Absperrgitter, morgens um fünf bereits über 450. Die Johanniter-Unfall-Hilfe schenkte Tee und Suppe aus. Ab nächster Woche wird sie auch einen Nachtdienst einrichten. Vom Senat erhalten sie für ihre humanitäre Hilfe keinen Pfennig. Die Innenverwaltung ist trotz täglicher Anfragen nicht in der Lage, Stellung zu nehmen. Die taz sprach mit Ingeborg Junge-Reyer (SPD), Sozialstadträtin in Kreuzberg.

taz: Wer ist schuld an diesem Desaster?

Junge-Reyer: Ganz eindeutig der Senator für Inneres. Hals über Kopf beschloß die Innenverwaltung Ende September, daß die Duldungen ab sofort am Waterloo-Ufer verlängert werden sollen. Um den Rest haben die sich nicht gekümmert. Die Behörde hat die einfachsten bürokratischen Regeln mißachtet. Sie hätten genau wissen müssen, daß etwa 8.000 Kriegsflüchtlinge in der Stadt sind und daß mit einer bestimmten Anzahl von Mitarbeitern maximal 500 Anträge pro Tag zu bearbeiten sind. Auf so eine Situation kann man sich dann vorbereiten, das ist eine schlichte Rechenaufgabe. Das hat die Innenverwaltung nicht getan. Die derzeitigen Mißstände, den Ansturm der verzweifelten Menschen hat er billigend in Kauf genommen. Das ist menschenverachtend und zynisch.

Eine bürokratische Panne?

Schlimmer noch. Die Innenverwaltung ist nicht nur unfähig, sondern auch unwillig. Wer solche Zustände provoziert, fördert die Ausländerfeindlichkeit, und das ist gewollt. Der vorbeigehenden Bevölkerung soll suggeriert werden, daß Ausländerströme das Land überfluten und alles dreckig machen. In Wirklichkeit aber stehen jede Nacht die gleichen vor der Tür. Ich unterstelle Heckelmann nicht, er sei selber ausländerfeindlich, aber er nimmt die Ausländerfeindlichkeit in Kauf, und am schlimmsten: Als verantwortlicher Politiker schürt er sie.

Der Pressesprecher des Innensenators sagt, seine Behörde habe die Sozialverwaltung rechtzeitig informiert, damit muttersprachliche Handzettel in den Heimen ausgehängt werden können.

Das stimmt einfach nicht. Der Innensenat hat uns überhaupt nie informiert. Ich selbst habe das Problem auf der Sitzung der Sozialstadträte am 1. Oktober auf die Tagesordnung gebracht, und alle 22 Bezirke haben beschlossen, die Sozialhilfe auch ohne Duldung weiterzubezahlen. Die Innenverwaltung hätte die Flüchtlinge im voraus anschreiben und ihnen mitteilen können, wer sich wann am Waterloo-Ufer einzufinden hat. Das hat sie nie getan. Und als die Probleme vor der Ausländerbehörde eintraten, habe ich vorgeschlagen, wenigstens Zelte aufzustellen. Der Senat hat das ignoriert.

Warum muß eine private Organisation wie die Johanniter-Hilfe jetzt einspringen?

Es ist ein Skandal, daß eine Hilfsorganisation, die eigentlich dafür da ist, unvorhersehbare Katastrophen oder Obdachlosigkeit zu managen, tätig werden muß, weil eine Behörde die simpelsten bürokratischen Regelungen nicht in Angriff nimmt. Die Katastrophe ist nicht vom Himmel gefallen, sondern programmiert gewesen. Die Innenverwaltung schüttet das Problem, das sie selber geschaffen hat, mit Tee vom Sozialdienst zu. Interview: Anita Kugler