: In den Fängen des Gurus
■ Die Geschichte eines Machtmißbrauchs / Beteiligte sind oft blind für die Gefahr
/ Beteiligte sind oft blind für die Gefahr
Die technische Zeichnerin Karin kündigt ihren Job, beendet ihre Beziehung zu Ralf, läßt ihre Freundinnen sausen, bricht mit allen Bekannten und Verwandten. Sie schreibt sich bei einer Zeichenschule ein und wirft nach kurzer Zeit alles hin, weil die Lehrer ihre künstlerischen Fähigkeiten nicht zu würdigen wissen. Ihre Welt teilt sich in Gut und Böse, nur noch ein guter Mensch bleibt übrig: Karins Psychotherapeutin. Sie war vor drei Jahren zu ihr gegangen, weil sie ihr Leben ohne Sinn und Hoffnung empfand, enttäuscht war von ihrer Arbeit als technische Zeichnerin und ihrem Partner Ralf.
Schon nach den ersten Psychotherapie-Stunden geht es Karin besser. Sie fühlt sich gut aufgehoben, endlich einmal bestätigt und verstanden. Sie gerät bald danach häufig in Konflikte — in ihrem Büro, mit Freunden, mit ihrem Partner. Die verständnisvolle Therapeutin bestätigt ihr immer wieder, daß ihre Kollegen ungerecht sind, Ralf und ihre Freunde sie nicht richtig behandeln — und ermuntert sie auch nicht, die Konflikte zu lösen. Karin bricht mit allem und jedem. Ihre Freundinnen hören nichts mehr von ihr und ihr Freund zieht aus. Die Zeichenkurse bricht Karin mit der Begründung ab, ihre Lehrer seien unfähig. Das einzige, was sie noch regelmäßig wahrnimmt, sind ihre Therapiestunden, die einzige Person, der sie noch vertraut, ist ihre Therapeutin. Sie erscheint Karin als vollkommen.
Was auf den ersten Blick wie ein Rundumschlag der Selbstbefreiung wirkt, ist ein subtiler Machtmißbrauch. Die Therapeutin nimmt Karins Leben in die Hand, beeinflußt jede ihrer Entscheidungen. Die Klientin Karin übergibt Stück für Stück die Verantwortung für ihr Leben der „allmächtigen“ Therapeutin, von der sie subtil, aber sicher manipuliert wird. Karin würde nie wagen, ihr zu widersprechen, einen anderen Standpunkt einzunehmen als die verehrte Retterin.
Karin hatte bei ihr professionelle Hilfe in einer Lebenskrise gesucht, als sie hilflos war und Führung suchte. Von Anfang an eine ungleichgewichtige Situation. Der Wunsch der Patientin, die Therapeutin möge die „Macht“ haben, ihr zu helfen, vergrößerte das Ungleichgewicht noch. Wie viele Psychotherapie-Patienten und auch Anhänger von Sekten verbindet Karin mit den seelischen Prozessen etwas Magisches und Geheimnisvolles, an das sie nicht rühren möchte oder es gar kritisch hinterfragen. Sie entwickelt zu ihrer Therapeutin eine uralte und klassische Beziehung, wie Stammesangehörige zu ihrem Medizinmann, die Sekte zu ihrem Guru, das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern.
Nun macht ein Stück Selbstaufgabe, ein Stück „Sich fallen lassen“ den Erfolg einer Psychotherapie erst möglich. Eine intensive und vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeutin und Patientin ist eine wichtige Voraussetzung. Wenn der therapeutische Prozeß gut läuft wächst daraus eine neue Unabhängigkeit. Die Patientin erkennt, daß Konflikte nicht „wegzutherapieren“ sind, daß die eigenen Möglichkeiten so wie die der Therapeutin begrenzt sind, letztere also auch nur ein Mensch mit Grenzen ist — das magische Feld löst sich auf.
Das Eltern-Kind-Verhältnis ist in der Psychotherapie teilweise ein durchaus erwünschtes und fruchtbares Rollenspiel, denn dadurch lassen sich frühkindliche Erfahrungen noch einmal inszenieren und begreifen, die das Leben der Patientin geprägt haben. In Karins Fall raubt dieses Beziehungsmuster ihr jedoch den letzten Rest ihrer Identität. Sie wird abhängiger als vorher, gibt ihre FreundInnen auf, weil sie durch kritische Bemerkungen die wunderbare Macht der Therapeutin gefährden könnten.
Das „Rollenspiel“ läuft in dem Moment aus dem Ruder, als Karins Therapeutin die Macht lockt. Schließlich fängt sie wie übermächtige Eltern an, Karin das Recht auf eigene Gefühle, eine eigene Meinung abzusprechen — sie hat die Wahrheit gepachtet. Vera Stadie
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen