Verdis Frühlingssturm im Dom

■ Verdis Requiem: der Monteverdi Choir und das Orchestre Revolutionnaire et Romantique unter J. E. Gardiner

Als wäre im September das Wetter noch zu schön und das Gemüt des Musikfreundes noch zu heiter gestimmt gewesen: das Abschlußkonzert des Musikfestes fand im traurigen Monat November statt, in dem selbst hartgesottene Sünder den Weg durch's Kirchenportal finden, um in düster-traurigen Klangwolken grübeln zu können, sich ein wenig schrecken zu lassen vom lärmenden Getöse des Jüngsten Gerichts, und um schließlich umso wohliger im milden Troste des Gesangs der Seligen baden zu können. Diesem Zwecke dient im protestantischen Norden immer noch Brahmsens Norddeutsches Requiem am besten. Das gab es nicht. Trotzdem zog es die Massen in den Dom zu Bremen. Wegen des großen Andrangs wurde das Publikum zur Generalprobe zugelassen. Dort fand auch der Berichterstatter Zugang, um Verdis grandioses Requiem zu hören.

Die Direktion hatte, unterstützt durch einen ungenannt bleibenden Sponsor, dadurch zum Mäzen geadelt, keine Kosten gescheut und aus London den Monteverdi Choir und das Orchestre Revolutionnaire et Romantique eingeflogen. Dazu kam — mittlerweile in Hamburg erfolgreich wirkend — J. E. Gardiner und aus diversen Metropolen das Solistenquartett bestehend aus Luba Organasova, Anne Sofie von Otter, Luca Canonici und Alastair Miles. Alle zusammen entfachten einen Sturm, keinen Herbst-, sondern einen Frühlingssturm, der Nebel, Melancholie und Selbstversenkung schon nach den ersten Takten zerstreute.

Verdis Requiem gehört zu den monumentalen Musikwerken des 19. Jahrhunderts, die sich liturgischer Texte nicht bedienen, um die tiefe Religiosität des Komponisten zur Schau zu stellen, oder gar die Zuhörer reif für die Botschaft der Kirche zu machen. Bei Beethoven, Berlioz, Liszt und eben auch bei Verdi spiegeln sich die großen politischen Kämpfe gegen die Restauration. Hoffnung, Emphase und auch Resignation bestimmen das musikalische Geschehen. Für Verdi war der Tod Rossinis und Manzonis Anlaß genug, außerhalb der Opernbühne seine Erfahrung seines 19. Jahrhunderts niederzuschreiben.

Leider ist dem Umstand, daß es sich nicht um eine Oper handelt, von den Interpreten der letzten 120 Jahre nicht recht zur Kenntnis genommen worden. Als Opern-Potpourrie nahm es die seriöse deutsche Kritik auf, durchaus angetan, aber wegen der südländischen Übertreibungen mit nachsichtigem Lächeln. Gleichwohl oder gerade deswegen wurde das Werk ein Renner.

Gardiner und sein Team haben in intensiver Arbeit das Werk wiederhergestellt: Unsentimental, ohne Operntheatralik doch packend, mit unglaublicher Wucht, authentisch.

Die Restauration erfolgte in 2 Stufen: Zum einen bediente sich das Orchester der Instrumente der Uraufführungszeit. Wir hören obertonreiche Streicher, die klar konturiert klingen, zuweilen scharf. Sie lassen Raum für einen ungewohnten, einzigartigen Holzbläserklang: Flöten mit rauchigem Ton, die nicht nach jener Welt, sondern ganz nach dieser klingen. Fagotte mit archaischen Tiefen, näselnd-samtig, aber durchaus widerborstig in den Höhen. Klarinetten, die so recht nach bäuerlichen Blasorchester tönen. Daneben ein Blechbläserapparat, mächtig und tiefschwarz im Fundament und messerscharf schneidend im Fortissimo. Dahinter ein Chor — gleichermäßig mit Männern und Frauen besetzt und daher ungewohnt ausgeglichen klingend, der dramatische Spannung und ruhevoll-melancholische Versenkung nur mit fein abgestufter Dynamik erzeugen kann. Mittendrin ein wohlklingendes Solistenquartett, sich nie in den Vordergrund spielend, immer präsent, das zu himmlischen Aufschwüngen, zu klangschönem unaufdringlichen Belcanto, zu emotionslosem trockenem Kommentar und zu tonlos leerer Deklamation in der Lage war.

Zum anderen nutzte Gardiner dies beeindruckende „Material“ zu einer überzeugenden Interpretation. Zügige Tempi, straffes, aber ausdifferenziertes Musizieren öffnete den Blick für Konstruktion und Binnenstruktur des Werkes. Selbst bei größter Kraftentfaltung, die um das Kirchenschiff Bangen machte, blieb das komplexe Stimmengeflecht durchhörbar: eine Aufführung, die lange nachwirkte und damit wieder einmal den Beweis erbrachte, daß intellektuell durchdachte und handwerklich saubere Aufführungen tiefer haften, als es emotionsgeladene Theatralik vermöchte. Mario Nitsche