„Sozialabbau müssen wir bekämpfen“

■ Sozialsenatorin Irmgard Gaertner: Streichungen „fatal“ / Begriff der Arbeit neu definieren / Über Neuverteilung nachdenken

taz: „Umbau“ statt „Abbau“ — das haben Sie in Ihrer Pressekonferenz vor allem auf das bremische Sanierungsprogramm bezogen. Wenn es nach dem Willen des Bundeskanzlers geht, werden SozialhilfeempfängerInnen künftig noch weiter von der Wohlstandsgesellschaft abgekoppelt. Kann man da überhaupt noch von Umbau sprechen?

Irmgard Gaertner: Nein. Das kann man nicht mehr als Umbau bezeichnen, das ist Abbau. Und dies ist deswegen so fatal, weil es genau zu dem Zeitpunkt passieren soll (jedenfalls nach den Vorstellungen, die in Bonn entwickelt worden sind), an dem die Zahl der armen Menschen steigen wird: der Menschen, die nicht genug zum Leben haben, die keine Arbeit haben und die weit unterhalb des Niveaus des „Normalbürgers“ ihr Leben bestreiten müssen. Die Zahl dieser Bürger wird steigen — aufgrund der rückläufigen Konjunktur, aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit, aufgrund der sinkenden öffentlichen Mittel, vor dem Hintergrund der Erfordernisse in den fünf neuen Bundesländern.

Dies ist eindeutig ein Sozialabbau und den muß man bekämpfen.

Was wollen Sie dazu tun?

Man kann nur versuchen, dies bundespolitisch anzugehen: Um durch Bundesratsinitiativen das Schlimmste zu verhindern. Dazu müssen sich die Bundesländer, die gleiche Positionen vertreten, zusammentun: üblicherweise die A-Länder, wo die SPD regiert, wo die SPD zusammen mit Grünen regiert, wo es Ampeln gibt wie in Bremen oder in Brandenburg.

Aber die Absichten, die in Bonn ausgebrütet werden, haben den fatalen Hintergrund wenn — wir bei Sozialhilfe bleiben — , daß die Kommunen damit positiv betroffen werden: die dann weniger Ausgaben als jetzt hätten. Das Bundessozialhilfegesetz ist zwar ein Bundesgesetz, aber die Kommunen müssen es ganz wesentlich finanzieren. Insofern können solche Ideen Sympathien dort provozieren, wo ich sie am allerwenigsten brauchen kann.

Die Stadtstaaten sind da in einer besonderen Situation. Wird Bremen initiativ werden?

Bremen ist ja nicht nur Bundesland, sondern spielt auch im Städtetag eine große Rolle. Natürlich müssen wir Bundesgenossen finden. Wir kleinstes aller kleinen Länder, ärmstes aller armen Länder, die überall betteln müssen, daß wir aus dieser fatalen Haushaltsnotlage herauskommen, wir sind ja auch in der fatalen Situation, daß wir eigentlich das Maul halten müssen und nicht noch gegenhalten dürfen.

„Als kleinstes und ärmstes aller Bundesländer müßten wir eigentlich das Maul halten. Ich halte dies aber nicht für richtig.“

Ich halte dies aber nicht für richtig. Ich glaube auch nicht, daß dies in Bremen durchzuhalten ist. Denn dies würde in eklatanter Weise bremischer Sozial- und Gesundheitspolitik widersprechen. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses sehr traditionsreiche Land diese Traditionen einfach über Bord schmeißt.

Aus den Kreisen Ihrer Partei ist immer wieder zu hören, daß angesichts der genannten Absichten bzw. Entwicklungen der Solidarpakt nicht zustandekommen wird. Welche Position haben Sie?

Ich hoffe, daß ein Solidarpakt, der faktisch Sozialabbau bedeutet, nicht zustandekommt. Denn die Idee vom Solidarpakt ist ja eine andere: daß zum Beispiel Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich darauf verständigen, daß die Tarife z.B. nicht über einen bestimmten Level hinaussteigen, daß man in einer Art Gemeinschaftswerk versucht, auch über Jahre hinweg, die Mittel zusammenzukratzen, die im Osten gebraucht werden, um die Solidarität zwischen den alten und den neuen Ländern herzustellen.

Hinter diesem Stichwort Solidarpakt steckt eine ganze Menge. Und wenn man dieses Paket aufdröselt, kommen viele Maßnahmen heraus. Und jede dieser Maßnahmen muß daraufhin untersucht werden, ob sie machbar und ob sie erträglich ist, wen sie trifft — die relativ Reichen oder die relativ Armen oder die ganz Armen, und diese Ergebnisse müssen dann zu einem Paket neu zusammengesetzt werden.

Sie haben gesagt, 511 Mark Eckregelsatz in der Sozialhilfe sind unumstößlich. Dies kann nicht einfach auf 480 Mark heruntergesetzt werden und das müsse auch ein Herr Kohl lernen. Wo kann überhaupt noch gespart werden?

Im Sozialbereich sind jedenfalls nicht die großen Beträge zusammenzukratzen. Aber es gibt sicher Beispiele, wie beim Landespflegegeldgesetz, wo völlig zu recht die Frage aufgeworfen werden muß, ob eine Leistung, die (in Bremen) einkommens- und vermögensunabhängig gewährt wird, ob die noch zeitgemäß und gerecht ist. Ich habe immer und bei allen Diskussionen um soziale Grundsicherung die Auffassung vertreten, daß einkommens- und vermögensunabhängige Leistungen das Ungerechteste sind, das es überhaupt gibt — weil hier nach dem Gießkannenprinzip für eine ganze Gruppe Menschen gleichmäßig Geld verteilt wird, statt das immer zu knappe Geld so zu verteilen, daß man den Ärmeren und den Armen gegenüber klotzen kann. Und alle Leistungen sind daraufhin zu überprüfen, ob sie diesem Gerechtigkeitsprinzip entsprechen. Das gilt nicht nur für spezifische Bremer Leistungen.

Dazu gehört natürlich auch das Thema, das so abgekaut ist, daß man es kaum noch in den Mund nehmen kann — Subventionen. Dazu gibt es natürlich auch eine bremische Variante. Wir werden angesichts des Abbruchs von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, des Wegfalls von vielen Leistungen, die früher von der Bundesanstalt für Arbeit geleistet worden sind, nicht drumherumkommen, all das ganz kritisch zu überprüfen, was früher über Projektfinanzierung gelaufen ist. Wir müssen aber aber auch alles, was über Wettmittel finanziert wurde, kritisch prüfen.

Die Wettmittel werden ja weiterfließen und wir müssen sehen, wo wir unsere Schwerpunkte setzen: Wo wir nicht mehr, oder nicht in dem Umfang oder wo wir verstärkt fördern werden.

Nun gibt es gerade in in der krisengeschüttelten Region Bremen so viele Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, aber auch Asylbewerber, die seit Jahren hier sitzen — also „gesellschaftliche Produktivkräfte“, die nicht genutzt werden. Leute, die aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten können oder dürfen. Gibt es Denkmodelle, die man in die Diskussion bringen sollte, um zu ganz anderen Lösungsmöglichkeiten zu kommen?

Ich halte nach wie vor die Möglichkeit, zu arbeiten und sich in mehr oder weniger hohem Umfang seine Brötchen alleine verdienen zu können, für eine ganz wichtige Sache, um die Gesellschaft ein Stück humaner zu machen. Deswegen muß in Bremen darüber nachgedacht werden, wie wir die Zuwanderer, von denen wir wissen oder ahnen können, daß sie auf Dauer in dieser Stadt leben werden, auch in Arbeit und Brot bringen. Dies ist schwierig. Aber ich glaube, es lohnt sich. Denn diejenigen, die arbeiten und mit ihren Kompetenzen Geld verdienen, sind eben auch nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch die Behindertenarbeit ansehen. Die „Werkstatt Bremen“ geht da ja schon andere Wege als die meisten anderen Behinderteneinrichtungen. Ich bin gegen die Aussonderung, diese Besonderheiten, daß Behinderte arbeiten, aber keinen oder nur wenig Lohn erhalten, stattdessen Sozialhilfe bekommen bzw. das Unternehmen, in dem sie arbeiten, in hohem Maße über Sozialhilfe subventioniert ist.

In geringem Maß werden diese Betriebe bereits über Mittel der Bundesanstalt für Arbeit finanziert. Aber genau wie bei den Zuwanderern, ob sie Aus

hier die Frau

mit Brille

an Mikro

Irmgard Gaertner: Der Eckregelsatz ist unumstößlich. Das muß auch Herr Kohl lernenFoto: Björn Hake

siedler, Asylbewerber oder schlicht arme Menschen sind, die sich hier eine neue Existenz aufbauen wollen, muß das ganze Thema Arbeit neu überdacht werden. Man muß mehr Arbeitsplätze schaffen. Möglicherweise müssen wir uns dann in der Tat auch fragen, ob diese Einkommens- und Vermögensverteilung, die wir in der Bundesrepublik haben, nicht sehr viele Ungerechtigkeiten in sich birgt. Ich frage mich das selbst, ich verdiene als Senatorin ja sehr gut. Über eine Neuverteilung müßte nachgedacht werden, aber das ist ein ganz tiefgehendes Schiff.

Es gab von Herrn Seiters den Vorschlag, die bundesrepublikanischen Grenzen gen Osten per Infrarot-Anlagen gegen Flüchtlinge überwachen zu lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann irgendjemand auf

die Idee kommt, Bremens Häfen zu überwachen.

Ich werde das meine tun, um solch einen hanebüchenen Unsinn und solche abenteuerlichen Vorstellungen zu verhindern. Das kann ich natürlich nicht alleine. Über diese Zeit der Grenzen sind wir nicht erst seit es Europa gibt hinaus. In dieser Welt ziehen Menschen aus dem südlichsten Afrika und aus nördlichen und östlichen Ländern hierher, große Völkerwanderungen finden statt - dorthin, wo sie hoffen, besser und menschenwürdiger leben zu können. Wir haben offene Grenzen, Kommunikations- und Transportmittel, die diese Welt ganz klein gemacht haben. Wir müssen uns endlich auf diese Situation einstellen. Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Interview: Birgitt Rambalski